Rz. 4
Um zu prüfen, ob ein Fall der Wahrnehmung widerstreitender Interessen vorliegt, wird der geneigte Rechtsanwalt mutmaßlich zunächst die BRAO und ergänzend die BORA heranziehen. Er wird fündig werden bei § 43a BRAO ("Grundpflichten"), dort in Abs. 4–6 sowie § 3 BORA ("Interessenwiderstreit"). Bis zum 1.8.2022 war das Verbot in § 43a Abs. 4 BRAO in einem einzigen Satz formuliert. Nunmehr ist es mit insgesamt neun Sätzen, verteilt über drei Absätze, geregelt. Die Regelung in § 3 Abs. 1 S. 1 BORA hat insoweit keinen eigenen Regelungsgehalt, jedoch enthalten die übrigen Regelungen des § 3 BORA Konkretisierungen und berufsrechtliche Vorgaben (soweit hier interessant vor allen Dingen die Pflicht, "alle Mandate in derselben Rechtssache zu beenden", § 3 Abs. 2 BORA, vgl. hierzu auch Rdn 23). Ergänzend – und erstaunlicherweise ebenso wie § 352 StGB (Gebührenüberhebung) vielfach unbeachtet, wenn nicht sogar unbekannt – ist die Strafbarkeit des Parteiverrats gem. § 356 StGB zu beachten (vgl. hierzu Rdn 33). Während der Parteiverrat nach § 356 StGB Vorsatz erfordert, kann der berufsrechtliche Verstoß nach § 43a Abs. 4 BRAO auch fahrlässig begangen werden, § 113 Abs. 1 BRAO ("Schuldhaft gegen Pflichten verstößt"). Im Übrigen ist der objektive Tatbestand jedoch identisch.
Rz. 5
Nach der Rechtsprechung des BVerfG dient das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen neben dem Schutz des individuellen Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant, der Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts und dem Gemeinwohl in Gestalt der Rechtspflege,
Zitat
die auf eine Geradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung angewiesen ist, also darauf, dass ein Anwalt nur einer Seite dient. All diese Belange treten nebeneinander und bedingen einander.
(…) Als unabhängige Organe der Rechtspflege und als berufene Berater und Vertreter der Rechtsuchenden haben Anwälte die Aufgabe, sachgerechte Konfliktlösungen herbeizuführen, vor Gericht zugunsten ihrer Mandanten den Kampf um das Recht zu führen und dabei zugleich staatliche Stellen möglichst vor Fehlentscheidungen zu Lasten ihrer Mandanten zu bewahren (vgl. BVerfGE 76, 171, 192). Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt voraus. Diese Eigenschaften stehen nicht zur Disposition der Mandanten. Der Rechtsverkehr muss sich darauf verlassen können, dass der Pflichtenkanon des § 43a BRAO befolgt wird, damit die angestrebte Chancen- und Waffengleichheit der Bürger untereinander und gegenüber dem Staat gewahrt wird und die Rechtspflege funktionsfähig bleibt (vgl. BVerfGE 63, 266, 284; 93, 213, 236).
Rz. 6
So vermeintlich klar und eindeutig die Entscheidung des BVerfG und der Gesetzeswortlaut klingen mag, so schwierig ist es gleichwohl die Sachverhalte und deren Rechtsfolgen in der Praxis klar voneinander abzugrenzen. Die Diskussion über die Auslegung der Normen bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen den eben genannten Belangen des Mandanten und der Allgemeinheit einerseits und eines rechtswidrigen Eingriffes in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Rechtsanwalts andererseits.
1. "Dieselbe Rechtssache"
Rz. 7
Anknüpfungspunkt in berufsrechtlicher Hinsicht ist zunächst § 43a Abs. 4 S. 1 BRAO. Danach kommt es zunächst darauf an, ob der Anwalt mit "derselben Rechtssache" bereits befasst war. Die Satzungsversammlung hat damit die Formulierung des § 356 StGB übernommen. Nach der Rechtsprechung des Senates des BGH für Anwaltssachen umfasst dieselbe Rechtssache
Zitat
"alle Rechtsangelegenheiten, in denen mehrere ein entgegengesetztes rechtliches Interesse verfolgende Beteiligte vorkommen können (…). Maßgebend ist dabei der sachlich-rechtliche Inhalt der anvertrauten Interessen, also das anvertraute materielle Rechtsverhältnis, das bei natürlicher Betrachtungsweise auf ein innerlich zusammengehöriges, einheitliches Lebensverhältnis zurückzuführen ist (…)".
Rz. 8
Dabei kommt es – das legt der Begriff "Lebensverhältnis" auch nahe – nicht etwa auf eine Identität der geltend gemachten Ansprüche an. Ein zugrundeliegendes einheitliches Lebensverhältnis ist somit insbesondere eine Erbengemeinschaft. Denn es kommt
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weder auf die beteiligten Personen |
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noch den zeitlichen Ablauf (parallel oder nacheinander) an. |
Rz. 9
Während also in vielen anderen Rechtsgebieten umfangreich darüber gestritten werden mag, ob "dieselbe Rechtssache" vorliegt, so ist dies im Erbrecht einfach auf die Gleichung
derselbe Erbfall = dieselbe Rechtssache
zu bringen. Der BGH sieht es als die
"Klammerwirkung des vom Erbfall bestimmten Nachlassbestandes".
Rz. 10
Praxistipp
In erbrechtlichen Angelegenheiten sollte die Kollisionsko...