Leonie Lehrmann, Walter Krug
Rz. 60
Der Erblasser muss das ihm verbliebene Recht zu lebzeitigen Verfügungen missbraucht haben, um den Vertragserben zu beeinträchtigen. Die Absicht, den Vertragserben zu beeinträchtigen, wird am lebzeitigen Eigeninteresse gemessen. Ausschlaggebend ist, welche Gründe den Erblasser bewogen haben, wobei eine Gesamtabwägung zwischen den Interessen des Vertragserben einerseits und dem Nachteil des Erblassers, an den Vertrag gebunden zu sein, andererseits vorzunehmen ist.
Rz. 61
Hatte der Erblasser ein lebzeitiges Eigeninteresse an der Verfügung unter Lebenden, so scheidet ein Anspruch nach § 2287 BGB aus. Nach ständiger Rechtsprechung besteht ein solches lebzeitiges Eigeninteresse des Erblassers, "wenn nach dem Urteil eines objektiven Beobachters die Beweggründe des Erblassers in Anbetracht der gegebenen Umstände so sind, dass der erbvertraglich Bedachte sie anerkennen und seine Benachteiligung durch die Verfügung des Erblassers hinnehmen muss".
Das OLG Frankfurt/M. schränkt aber ein:
Zitat
"Will der Erblasser die in einer bindend gewordenen Verfügung von Todes wegen enthaltene Vermögensverteilung nachträglich anders regeln, ohne dass sich die tatsächlichen Umstände seit Errichtung der Verfügung geändert haben, so fehlt in der Regel das eine Schenkung zum Nachteil des Bedachten rechtfertigende lebzeitige Eigeninteresse (BGHZ 59, 343 = NJW 1973, 240), wenn andere Motive des Erblassers nicht durchschlagen."
Rz. 62
Bei Schenkungen, die einer sittlichen Pflicht oder einer Anstandspflicht entsprechen, § 534 BGB, wird man nicht von einem Missbrauch i.S.v. § 2287 BGB sprechen können; ebenso nicht bei Schenkungen aus persönlichen Rücksichten (siehe hierzu Rdn 69 f.).
Rz. 63
Ein lebzeitiges Eigeninteresse fehlt dagegen, wenn die Verfügung allein darauf angelegt ist, dass ein anderer als der Vertrags- oder Schlusserbe wesentliche Vermögensteile nach dem Tod des Erblassers ohne angemessene, in den Nachlass fließende Gegenleistung erhält. Insbesondere ist der spezifische Anwendungsbereich des § 2287 BGB dann gegeben, wenn der Erblasser ohne Änderung der bei Vertragsschluss bzw. Testamentserrichtung gegebenen Umstände allein wegen eines auf eine Korrektur der Verfügung von Todes wegen gerichteten Sinneswandels anstelle der bedachten Person einer anderen wesentliche Vermögenswerte zuwendet, nur weil diese andere Person ihm – jetzt – genehmer ist. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn der Erblasser nachträglich meint, eine im Erbvertrag oder im gemeinschaftlichen Testament erwähnte Person zu gering bedacht zu haben, und dies durch eine Schenkung zugunsten dieser Person zu korrigieren sucht.
Rz. 64
Regelmäßig wird ein lebzeitiges Eigeninteresse des Erblassers anzunehmen sein, wenn der Erblasser mit der Schenkung seine Pflege oder Versorgung im Alter sichern wollte. Dies gilt selbst dann, wenn der Beschenkte ohne rechtliche Bindung Leistungen – etwa zur Betreuung im weiteren Sinne – übernimmt, tatsächlich erbringt und auch in der Zukunft vornehmen will. In einer umfassenden Gesamtabwägung ist in solchen Fällen zu berücksichtigen, dass der Erblasser sich ihm erbrachte oder zu erbringende Leistungen "etwas kosten lassen darf".
Rz. 65
Ein lebzeitiges Eigeninteresse ist in der Rechtsprechung darüber hinaus bisher in folgenden Fällen bejaht worden:
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Wenn der Erblasser die Schenkung gegenüber einer jüngeren Ehefrau im Hinblick auf die spätere Betreuung und Pflege gemacht hat. |
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Zur Erfüllung einer Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem zweiten Ehegatten durch Bestellung eines Nießbrauchs. |
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Wenn die Übertragung eines Geschäftsanteils auf einen Mitarbeiter erfolgte, um diesen aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten im Betrieb zu halten. |
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Wenn die Schenkung aus ideellen Gründen als Belohnung für geleistete Dienste in angemessenem Umfang erfolgte, beispielsweise für eine Pflege. |
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Wenn mit der Schenkung die Interessen des Vertragserben wahrgenommen wurden oder wenn der Vertragserbe sich schwerer Verfehlungen gegenüber dem Erblasser schuldig gemacht hat oder wenn der Erblasser die Schenkung aus Gründen der Altersversorgung vorgenommen hat. |
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Wenn der Erblasser im Interesse der Gleichbehandlung der Vertragserben und des Rechtsfriedens einen vermeintlichen Wertverlust bei anderen Vermögensgegenständen ausgleichen und somit dem Erbvertrag Genüge tun will. |
Rz. 66
In der Literatur wird darüber hinaus ein lebzeitiges Eigeninteresse an Zuwendungen zugunsten von Stiftungen und Organisationen, die kulturelle und wohltätige Zwecke verfolgen, bejaht. Solche Schenkungen, die dem Gemeinwohl dienen, seien in besonderem Maße zu rechtfertigen. Gleichwohl müsse sich das Mäzenatentum allerdings im angemessenen Rahmen halten. Dieser sei jedenfalls dann überschritten, wenn ein Großteil des Nachlasses verschenkt worden sei.
Rz. 67
Ein lebzeitiges Eigeninteresse des Erblassers wurde von der Rechtsprechung bisher verneint:
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Wenn der Erblasser nach Abschluss des Erbvertrags zum Besche... |