Rz. 26
Die EuGVVO findet auf alle Zivil- und Handelssachen (s. dazu auch Erwägungsgrund 10 EuGVVO) Anwendung, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt (Art. 1 Abs. 1 EuGVVO; Art. 1 Abs. 1 LugÜ II), sofern keiner der enumerativ aufgezählten Ausschlüsse (Art. 1 Abs. 2 EuGVVO; Art. 1 Abs. 2 LugÜ II) vorliegt.
Rz. 27
Soweit die "soziale Sicherheit" ausgenommen wird (Art. 1 Abs. 2 lit. c) EuGVVO), betrifft dies nur Ansprüche zwischen dem Träger der sozialen Sicherheit und seinen Leistungsberechtigten, nicht aber Regressansprüche, die der Träger – aus eigenem oder übergegangenem Recht – gegenüber einem Schädiger geltend macht. Ausgeschlossen ist dagegen die Verfolgung von öffentlich-rechtlichen Ansprüchen eines Trägers der sozialen Sicherheit. Auch bei Klagen von "Behörden" kommt es auf die Natur der zwischen den Parteien des Rechtsstreits bestehenden Rechtsbeziehungen und dessen Gegenstand an. Es darf keine Ausübung hoheitlicher Ansprüche vorliegen.
Rz. 28
Ebenfalls ausgenommen vom Anwendungsbereich ist die Schiedsgerichtsbarkeit (Art. 1 Abs. 2 lit. d) EuGVVO). Soweit die Anwendbarkeit einer Schiedsvereinbarung einschließlich deren Gültigkeit als Vorfrage für die Entscheidung in der Hauptsache von Bedeutung ist, unterliegt dies jedoch der Prüfungsbefugnis des nach der EuGVVO zuständigen Gerichts (Erwägungsgrund 12 EuGVVO).
Rz. 29
Der Begriff der Zivilsache ist als autonomer Begriff der EuGVVO zu verstehen, für dessen Auslegung zum einen die Ziele und der Aufbau der Verordnung und zum anderen die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtssysteme ergebenden allgemeinen Grundsätze heranzuziehen sind. Die EuGVVO gilt danach für Streitigkeiten, deren Rechtsnatur nach materiell-rechtlichen Kriterien zivilrechtlicher Natur ist; ihr Anwendungsbereich wird also durch die Natur der zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen oder durch den Gegenstand des Rechtsstreits bestimmt. Die Zivilklage auf Ersatz eines Schadens, der einem Einzelnen durch eine strafbare Handlung entstanden ist, hat auch dann zivilrechtlichen Charakter, wenn sie im Adhäsionsverfahren (siehe unten § 33 Rdn 3) vor dem Strafgericht verfolgt wird. Ebenso liegt eine Zivilsache vor, wenn eine Klage, der ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, zugrundeliegt, von einem Insolvenzverwalter im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erhoben wird und deren Erlös im Erfolgsfall der Gläubigergemeinschaft zufließt; denn maßgebend für die Bestimmung des (Rechts-)Gebiets, dem eine Klage zuzurechnen ist, ist nicht der prozessuale Kontext, in dem diese steht, sondern deren Rechtsgrundlage. Schließlich können zwar auch Verfahren, in denen sich eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen, unter die EuGVVO fallen, das trifft aber nicht zu, wenn die Behörde einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse führt. Dies ist insbesondere bei Streitigkeiten der Fall, die einer Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch eine der Parteien des Rechtsstreits entspringen, da diese Befugnisse ausübt, die über die im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden allgemeinen Regeln hinausgehen. Werden keine hoheitlichen Befugnisse wahrgenommen, so steht auch der Grundsatz der Staatenimmunität (siehe dazu § 25 Rdn 11) einer Anwendung der EuGVVO nicht entgegen.
Rz. 30
Der gemeinsamen Zuständigkeitsordnung in Kapitel II der EuGVVO (LugÜ II) liegt die allgemeine Regel zugrunde, dass Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Staats zu verklagen sind (Art. 4 Abs. 1 EuGVVO; Art. 2 Abs. 1 LugÜ II). Dass diese Zuständigkeitsregel – als Ausdruck des Rechtssprichworts actor sequitur forum rei – allgemeiner Grundsatz ist, erklärt sich daraus, dass sie dem Beklagten grundsätzlich die Verteidigung erleichtert. Nur als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzstaats des Beklagten ist eine Reihe besonderer Zuständigkeitsregeln vorgesehen. Diese besonderen Zuständigkeitsregeln sind daher regelmäßig eng auszulegen und erlauben keine Auslegung, die über die in der Verordnung ausdrücklich geregelten Fälle hinausgeht (vgl. auch Erwägungsgrund 15 und 16 EuGVVO; Erwägungsgrund 11 und 12 EuGVVO a.F.). Die Anwendbarkeit besonderer Zuständigkeitsregeln hängt zum einen davon ab, dass sich der Kläger dafür entscheidet, sich auf diese zu berufen, und zum anderen davon, dass das angerufene Gericht deren besondere Voraussetzungen prüft.