Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. Sebastian Krülls
Rz. 55
Kreative und moderne Formen der Zusammenarbeit sind aus dem Wirtschaftsleben nicht mehr hinwegzudenken. Dies umfasst nicht allein die in den Gesetzesmaterialien zum reformierten AÜG angesprochenen Projektarbeiten von Beratungsunternehmen und IT-Dienstleistern. Auch außerhalb der IT- und Beratungsindustrie besteht in Unternehmen ein Bedürfnis, Betriebsmittel und Arbeitnehmer – sei es für ein kurzfristiges Projekt oder eine langfristige integrative Zusammenarbeit – zu bündeln und Personal untereinander auszutauschen. Moderne Arbeitsformen wie z.B. das agile Arbeiten (Scrum, Kanban etc.) beruhen vielfach gerade auf der engen Zusammenarbeit von Mitarbeitern verschiedener Unternehmen. Keine Zusammenfassung von Mitarbeiterressourcen lässt sich allerdings erfolgreich umsetzen, ohne die verschiedenen Formen von rechtsträgerübergreifendem Personaleinsatz (z.B. Arbeitnehmerüberlassung, Dienst- oder Werkvertrag, Gemeinschaftsbetrieb, Matrixorganisation) betriebswirtschaftlich auf ihre Vor- und Nachteile hin zu analysieren und rechtliche Risiken zu identifizieren.
Rz. 56
Nicht selten ist es die Arbeitnehmerüberlassung, die als besonders risikoträchtig und unpraktikabel empfunden wird. Unpraktikabel, weil der Gesetzgeber sie bei der Reform des AÜG 2017 durch die Anpassungen im Bereich der Höchstüberlassungsgrenze und des Gleichstellungsgrundsatzes verstärkt auf eine reine Vorstufe zum Normalarbeitsverhältnis in Form einer späteren Direktanstellung beim Entleiher ausgerichtet hat. Eine Aufwertung zu einer wirtschafts- und sozialpolitisch überzeugenden Alternative für längerfristige Zusammenarbeiten (außerhalb von Konzernstrukturen) war hingegen kein primäres Anliegen des Gesetzgebers. Rechtsunsicher, weil der Gesetzgeber die verdeckte Arbeitnehmerüberlassung rechtspolitisch fragwürdig der unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung gleichgestellt hat. Verstöße gegen das Arbeitnehmerüberlassungsrecht sind nicht nur zivilrechtlich, sondern auch durch das Ordnungswidrigkeitenrecht pönalisiert (vgl. insb. §§ 1 Abs. 1 S. 4 bis 6, 9 Abs. 1, 10, 16 AÜG). Letzteres ist im schlimmsten Fall mit öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen verbunden. Zwar hat der Gesetzgeber in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales ausdrücklich klargestellt, dass die Legaldefinition der Arbeitnehmerüberlassung in § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG zeitgemäßen, komplexen und modernen Formen des Projektgeschäfts nicht entgegenstehen soll. Diese Klarstellung war nicht nur, aber insbesondere für die IT-Branche durchaus von Bedeutung. Letztlich ist es aber der Arbeitgeber, der das Risiko einer falschen rechtlichen Qualifikation der jeweiligen Beschäftigungsform trägt. Da die Identifizierung von Arbeitnehmerüberlassung anhand einer risikoträchtigen wertenden Betrachtung am Maßstab der tatsächlichen Vertragsdurchführung (§ 12 Abs. 1 S. 2 AÜG) erfolgt, ist die detaillierte Analyse der geplanten unternehmerischen Zusammenarbeit von besonderer Bedeutung.
Rz. 57
Dies umfasst nicht nur die Frage, ob sich die Zusammenarbeit rechtlich in Form der Arbeitnehmerüberlassung oder anhand eines Dienst- bzw. Werkvertrags vollzieht. Auch alternative Formen der Zusammenarbeit, wie etwa die Implementierung eines Gemeinschaftsbetriebs oder moderner Matrixstrukturen, bedürfen einer sorgfältigen Analyse. Regelmäßig wird im Vorfeld der Zusammenarbeit hinsichtlich der Risiken nur eine Prognoseentscheidung des Arbeitgebers möglich sein. Dies liegt aus zwei Gründen in der Natur der Sache: Zum einen lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob die spätere Vertragsdurchführung in der Praxis (§ 12 Abs. 1 S. 2 AÜG) tatsächlich einer vorab "auf dem Papier" gefundenen Struktur entspricht, zum anderen unterliegt die Bewertung der abhängigen und unabhängigen Beschäftigung (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG) einer wertenden und sich entwickelnden Betrachtung der Arbeitsgerichte, die zuweilen auch unvorhergesehene Blüten hervorbringt.