Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. Sebastian Krülls
Rz. 4
Ein schon vor der Reform verbreiteter Kritikpunkt geht bis heute dahin, dass in Deutschland angeblich Normalarbeitsverhältnisse massenhaft durch prekäre Arbeitsverhältnisse abgelöst würden. Es sei eine fortschreitende Substitution der Stammbelegschaft durch Leiharbeitnehmer erkennbar, die zum Lohnverfall führe. Bereits die Arbeitsmarktberichterstattung der Bundesagentur für Arbeit von 2016 bestätigte diesen pauschalen Vorwurf nicht, sondern zeichnete ein weit differenzierteres Bild. Zum einen befindet sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse mit 34,31 Mio. (Stand September 2021) auf einem historischen Höchststand. Den Nachteilen der besonderen Beschäftigungsformen stehen zudem bessere Beschäftigungschancen für Menschen, die aufgrund einer vergleichsweise großen Arbeitsmarktferne bei der Beschäftigungssuche Probleme haben, gegenüber. Im Folgenden seien daher im Interesse einer objektiven Bewertungsgrundlage die tatsächlichen Daten zugrunde gelegt.
Rz. 5
Fakt 1: Die nominale Zahl der Leiharbeitnehmer stieg bis zur Reform an
Fakt ist, dass die nominale Anzahl der Leiharbeitnehmer in den letzten Jahren bis zur Reform im April 2017 auf über 1 Millionen gewachsen ist. Seit dem Jahreswechsel 2017/2018 war die Beschäftigung in Leiharbeit hingegen rückläufig, wobei sich der Beschäftigungsabschwung im Rahmen der Corona-Krise verstärkt hat. Im Juni 2021 ist eine Erholung festzustellen, das Vorkrisenniveau wurde jedoch noch nicht wieder erreicht. Soweit von Kritikern der Arbeitnehmerüberlassung behauptet wird, die Zahl der Leiharbeitnehmer habe sich aufgrund der Hartz-Gesetze 2002 mehr als verdreifacht, wird dies durch die verfügbaren Zahlen allenfalls teilweise gestützt. Zu berücksichtigen ist, dass die Bundesagentur für Arbeit das Meldeverfahren der Verleiherbetriebe Anfang 2013 in das allgemeine Meldeverfahren zur Sozialversicherung integriert hat. Hierdurch erhöhte sich der Abdeckungsgrad zum zuvor nur halbjährlich durchgeführten Meldeverfahren, bei dem es aufgrund von Meldeausfällen sowie zu spät eingehenden Meldungen zu einer geringeren Erfassung kam. Es ist davon auszugehen, dass bereits zuvor, also auch vor der Deregulierung der Leiharbeit, mehr Leiharbeitnehmer eingesetzt worden sind als es die Statistiken ausweisen. Der Anstieg der Leiharbeit wurde daher zumindest teilweise durch die Umstellung des statistischen Verfahrens relativiert. Fakt ist freilich, dass die Zahl der Leiharbeitnehmer bis zur Reform stetig gestiegen ist. Während es vor der Jahrtausendwende noch ca. 100.000 Leiharbeitnehmer gab, stieg deren Zahl bis zur Reform auf knapp 1 Million. Inzwischen ist sie insgesamt rückläufig bei im Juni 2021 834.000 Zeitarbeitnehmern, wobei es nach einem Rückgang von 9 % allein im Zeitraum von Februar bis Juni 2020 inzwischen zu einer gewissen Erholung gekommen ist. Die durch den Druck der Reform und zusätzlich wegen gedämpfter Konjunkturaussichten insgesamt rückläufige Tendenz ist insbesondere deshalb bedenklich, weil die Zeitarbeitsbranche einen wichtigen Beitrag zur Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt leistet. Mehr als ein Drittel aller Menschen aus den wichtigsten Herkunftsländern, die den Sprung aus der Arbeitslosigkeit heraus schaffen, kommen offiziellen Daten zufolge in der Arbeitnehmerüberlassung unter.
Rz. 6
Fakt 2: Der Anteil der Leiharbeitnehmer an der Gesamtbeschäftigung liegt bei ca. 2 %.
In Abhängigkeit zur prozentualen Zahl der rund 38 Millionen Beschäftigten in Deutschland ist der Anteil der Leiharbeitnehmer mit 2,1 % gering. Laut Statistik der Hans-Böckler-Stiftung lag der prozentuale Anteil der Leiharbeitnehmer bereits seit 2003 bei max. 3 %. Entgegen der oftmals propagierten Flucht in prekäre Beschäftigungsformen ist daher festzustellen, dass sich die Zahl der Leiharbeitnehmer in den letzten 16 Jahren nicht in einem die Normalarbeitsverhältnisse nennenswert ersetzenden Maße verändert hat.
Rz. 7
Fakt 3: Leiharbeitnehmer werden insbesondere in Produktionsberufen und wirtschaftlichen Dienstleistungsberufen (Reinigung, Verkehr, Logistik), aber zunehmend auch in IT-Dienstleistungsberufen eingesetzt
Von den genannten Leiharbeitnehmern sind 37 % 2021 in Produktionsberufen tätig gewesen (Metall- und Elektroindustrie, Land-, Forst- und Gartenbau). Ebenso viele (36 %) Leiharbeitnehmer arbeiteten in den Tätigkeitsfeldern Verkehr, Reinigung, Logistik und Sicherheit (wirtschaftliche Dienstleistungsberufe). Der Rückgang der Leiharbeitnehmer gegenüber dem Vorjahr um 56.000 geht zu zwei Fünfteln auf Produktionsberufe zurück. Die aktuellen Entwicklungen sind dabei besonders von den Umständen der Corona-Krise gezeichnet. Die langfristige Entwicklung der Leiharbeit hin zu einer Dominanz des Dienstleistungssektors wurde im Berichtszeitraum ganz erheblich beschleunigt (vgl. die folgende Grafik). Der Anteil der kaufmännischen sowie der IT-Dienstleistungsberufe ist über die Vorjahreszeiträume langfristig angestiegen; diese Ent...