Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. Sebastian Krülls
a) Rechtliche Rahmenbedingungen
Rz. 62
Anders als das AÜG enthält die Leiharbeitsrichtlinie keine ausdrückliche Bereichsausnahme für die Konzernarbeitnehmerüberlassung (vgl. Art. 1 Abs. 3 RL 2008/104/EG). Hieraus wird verbreitet abgeleitet, § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG sei unionsrechtswidrig. Die Gegenauffassung – zu der ausdrücklich der deutsche Gesetzgeber zählt – will diesen Umkehrschluss zu Recht nicht ziehen.
Rz. 63
Richtigerweise ließe sich allein vom Fehlen eines ausdrücklichen Konzernprivilegs in der Leiharbeitsrichtlinie nur dann überzeugend auf die Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Vorschrift schließen, wenn man zugleich unterstellt, dass der Begriff des Leiharbeitsnehmers (Art. 3 Abs. 1 lit. c RL 2008/104/EG) und des Leiharbeitsunternehmens (Art. 3 Abs. 1 lit. b RL 2008/104/EG) inhaltsgleich mit dem Begriffsverständnis der deutschen Arbeitnehmerüberlassung im Konzern sind (§§ 1 Abs. 1 S. 2, 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG). Hieran lässt sich aber trefflich zweifeln, weil beide Begriffe in der Leiharbeitsrichtlinie voraussetzen, dass mit dem Leiharbeitnehmer ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis begründet wurde, "um" ihn an ein entleihendes Unternehmen zu überlassen. Der in der Leiharbeitsrichtlinie in Art. 3 Abs. 1 lit, b, c verwendete Begriff "um" lässt durchaus auch eine Auslegungsvariante zu, wonach neben die leiharbeitstypische Überlassungssituation auch eine wertende Betrachtung treten muss, ob mit dem Arbeitnehmer ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis besteht, gerade "um" ihn (im Konzern) zu überlassen. Der deutsche Gesetzgeber hat diese in der Leiharbeitsrichtlinie angelegte wertende Betrachtung durch die Wendung "nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt" durchaus im deutschen AÜG gespiegelt. Auch der vom historischen Gesetzgeber ursprünglich verfolgte Zweck von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG steht nicht im Widerspruch zur Leiharbeitsrichtlinie. Ziel der Leiharbeitsrichtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit in den Mitgliedstaaten zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung gem. Art. 5 RL 2008/104/EG gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen (Art. 2 RL 2008/104/EG). Die Leiharbeitsrichtlinie verfolgt somit einen arbeitsmarktorientierten beschäftigungsfördernden Zweck (vgl. Erwägungsgrund 11, Art. 6 RL 2008/104/EG) und soll im Sinne des europäischen Flexicurity-Ansatzes einen angemessenen Ausgleich von unternehmerischer Flexibilität und Arbeitnehmerschutz in der Zeit der Überlassung bis hin zu einer Übernahme durch das entleihende Unternehmen gewährleisten. Der historische Befund des deutschen Gesetzgebers, bei der Konzernarbeitnehmerüberlassung sei nicht der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland, sondern der konzerninterne Arbeitsmarkt zweier Unternehmen betroffen, beruht auf einem ganz ähnlichen Gedanken. Es geht nicht darum, Arbeitnehmer aus der Beschäftigungslosigkeit über das Instrument der Arbeitnehmerüberlassung auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats zu integrieren (sog. Klebeeffekt). Das Konzernprivileg beruht vielmehr auf der Annahme, dass die überlassenen Arbeitnehmer bereits Teil des sozialpolitisch gesicherten Arbeitsmarkts der Bundesrepublik Deutschland sind. Mithin spricht vieles dafür, dass es bei der Frage der Richtlinienkonformität von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG nicht darum geht, "ob" ein Konzernprivileg generell unionsrechtskonform ist, sondern "wie weit" dessen Reichweite im Einklang mit den Zielen der Leiharbeitsrichtlinie durch einen Mitgliedstaat interpretiert werden darf. Hier bietet die Wendung "nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt" aus § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG aber durchaus ein methodisch valides Einfalltor für entsprechende Auslegungsergebnisse fernab der Unionsrechtswidrigkeit. Eine an den Zielen der Leiharbeitsrichtlinie orientierte Auslegung, die dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber eine spürbare sozialpolitische Einschätzungsprärogative bei der Ausgestaltung der Konzernarbeitnehmerüberlassung belässt, entspricht jedenfalls weit eher der Rechtsprechung des EuGH – etwa im Bereich des vorübergehenden Charakters der Leiharbeit – als die im deutschen Schrifttum oftmals anzutreffende, vermeintlich dogmatisch stimmigere imperative "Alles oder Nichts" Interpretation der Leiharbeitsrichtlinie.