Rz. 31
Der allgemeine Kündigungsschutz kann sich ausnahmsweise auf den gemeinsamen Betrieb mehrerer Unternehmen (sog. Gemeinschaftsbetrieb) beziehen. Diese Rechtsfigur ist insb. dann relevant, wenn in dem unmittelbaren Beschäftigungsbetrieb, z.B. der Niederlassung, nur zehn oder weniger Arbeitnehmer beschäftigt sind. Mehrere rechtlich selbstständige Unternehmen können nach st. Rspr. des BAG einen gemeinsamen Betrieb führen. Dies setzt voraus, dass sich die beteiligten Unternehmen zumindest stillschweigend rechtlich verbunden und einen einheitlichen Leitungsapparat geschaffen haben. Insb. müssen die Arbeitgeberfunktionen in den sozialen und personellen Angelegenheiten des BetrVG für die beteiligten Unternehmen institutionell einheitlich wahrgenommen werden. Dazu genügt es nicht, dass die betriebliche Tätigkeit in denselben Räumen und mit denselben sächlichen Mitteln entfaltet wird oder teilweise Personenidentität bei der Geschäftsleitung besteht. Damit wird verhindert, dass Unternehmen durch gesellschaftsrechtliche Gestaltung arbeitsrechtliche Gesetze, die an den Betriebsbegriff anknüpfen, wie das KSchG und das BetrVG, umgehen können.
Rz. 32
Ein gemeinschaftlicher Betrieb zwischen einer Konzernholding und einer oder mehreren Tochtergesellschaften liegt nicht bereits dann vor, wenn die Holding aufgrund ihrer konzernrechtlichen Leitungsmacht gegenüber den zuständigen Organen der Tochtergesellschaften in bestimmten Bereichen Anordnungen treffen kann. Die Annahme eines Gemeinschaftsbetriebes setzt insoweit einen einheitlichen, rechtlich gesicherten betriebsbezogenen Leitungsapparat voraus.
Rz. 33
Von Betrieben zu unterscheiden sind Betriebsteile, die gegenüber dem Hauptbetrieb organisatorisch unselbstständig sind und eine Teilfunktion von dessen arbeitstechnischem Zweck wahrnehmen. Betriebsteile zeichnen sich dadurch aus, dass sie über einen eigenen Arbeitnehmerstamm, eigene technische Hilfsmittel und eine durch die räumliche und funktionale Abgrenzung vom Hauptbetrieb bedingte relative Selbstständigkeit verfügen. Andererseits fehlt ihnen aber ein eigenständiger Leitungsapparat. Insb. die Vorschrift des § 23 KSchG differenziert nicht zwischen Betrieb und Betriebsteil, der unter den Voraussetzungen des § 4 S. 1 BetrVG lediglich im Sinne einer Funktion als selbstständiger Betrieb im Sinne des BetrVG gilt. Ein Betrieb im kündigungsschutzrechtlichen Sinne setzt daher keine räumliche Einheit voraus. Dementsprechend können z.B. mehrere Filialen einer Bank einen Betrieb i.S.d. KSchG darstellen.
Rz. 34
Für die Voraussetzungen des Vorliegens eines Gemeinschaftsbetriebes und den daraus abzuleitenden positiven Rechtsfolgen trägt grundsätzlich der Arbeitnehmer die Beweislast. Es reicht jedoch in der Regel aus, wenn der Arbeitnehmer die äußeren Umstände schlüssig darlegt, die für die Annahme sprechen, dass die Betriebsstätte, in der er beschäftigt ist, über keinen eigenständigen Leitungsapparat verfügt, diese viel mehr zentral gelenkt wird. Hat der Arbeitnehmer schlüssig derartige Umstände behauptet, so hat der Arbeitgeber hierauf nach § 138 Abs. 2 ZPO im Einzelnen zu erklären, welche rechtserheblichen Umstände gegen die Annahme eines einheitlichen Leitungsapparates für mehrere Betriebsstätten sprechen.
Rz. 35
Liegt ein einheitlicher Betrieb in diesem Sinne vor, so sind die Arbeitnehmer im Hinblick auf § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG zusammenzuzählen. Versetzungsmöglichkeiten (vgl. Rdn 131) oder die soziale Auswahl (vgl. Rdn 132) innerhalb des einheitlichen Betriebes sind nach den Verhältnissen aller Unternehmen zu berücksichtigen. Dies gilt nicht, wenn der Gemeinschaftsbetrieb im Zeitpunkt der Kündigung nicht mehr besteht bzw. bis zum Ablauf der Kündigungsfrist stillgelegt wird.
Rz. 36
Nach § 1 Abs. 2 BetrVG wird ein gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen vermutet, wenn zur Verfolgung arbeitstechnischer Zwecke die Betriebsmittel sowie die Arbeitnehmer von den Unternehmen gemeinsam eingesetzt werden (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG). Erforderlich ist also, dass die Arbeitgeberfunktionen einheitlich ausgeübt werden. Die Vermutungen sind widerlegliche Vermutungen. Die Regelungen führen lediglich dazu, dass der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast hat.
Rz. 37
Praxishinweis
Die verfassungskonforme Auslegung bzw. die in der Lit. angenommene unternehmens- bzw. konzerndimensionale Ausweitung des Betriebsbegriffes und die Möglichkeit der Berufung auf das Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebes zwingt den Rechtsanwalt, seinen Arbeitnehmermandanten immer entsprechend zu befragen, ob diese Voraussetzungen vorliegen. Wenn die Voraussetzungen vorliegen, ist i.d.R. die ausgesprochene Kündigung unwirksam, weil entweder kein Kündigungsgrund i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG vorliegt, die Sozialauswahl nicht ordnungsgemäß vorgenommen worden ist oder Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestehen.