I. Ultima-ratio-Prinzip
Rz. 51
Aus dem ultima-ratio-Prinzip, das unmittelbar aus § 1 Abs. 2 KSchG abgeleitet wird, folgt insb. der Vorrang der Änderungskündigung vor der Beendigungskündigung. Lässt sich eine Beendigungskündigung durch Ausspruch einer Versetzung, einer Änderungskündigung (vgl. dazu Rdn 105 ff.) oder durch ein sonstiges milderes Mittel vermeiden, muss der Arbeitgeber zunächst von diesem milderen Mittel Gebrauch machen. Der Vorrang gilt nicht nur für die betriebsbedingte (vgl. dazu Rdn 57), sondern auch für die personen- und die verhaltensbedingte Kündigung.
II. Prognoseprinzip
Rz. 52
Maßgeblich für die Beurteilung einer Kündigung sind die objektiven Verhältnisse zum Zeitpunkt ihres Zugangs. Später eintretende Umstände können die Wirksamkeit der Kündigung grundsätzlich nicht mehr beeinflussen. Andererseits können Kündigungsgründe, die erst nach Zugang der Kündigung entstanden sind, nur Anlass für eine erneute Kündigung bilden, eine bereits ausgesprochene hingegen nachträglich nicht rechtfertigen. Alle Kündigungsgründe sind zukunftsbezogen. Dies folgt aus § 1 Abs. 2 KSchG, wonach die geltend gemachten Kündigungsgründe einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen müssen. Die Wirksamkeit einer Kündigung lässt sich deshalb stets nur auf der Grundlage einer Prognose beurteilen. Dementsprechend bleibt eine einmal ausgesprochene, sozial gerechtfertigte betriebsbedingte Kündigung rechtswirksam, wenn sich die Verhältnisse nachträglich ändern (z.B. im Laufe der Kündigungsfrist neue, bis dahin nicht erwartete Aufträge eingehen oder die Absicht, den Betrieb oder eine Betriebsabteilung stillzulegen, aufgegeben wird). Allerdings kommt im Fall einer Fehlprognose ein Wiedereinstellungsanspruch in Betracht (vgl. dazu Rdn 91).
III. Interessenabwägung
Rz. 53
Bei betriebsbedingten Kündigungen ist nach der Rspr. des BAG nur in seltenen Ausnahmefällen eine Abwägung der beiderseitigen Interessen bei einer an sich betriebsbedingten Kündigung vorzunehmen. Ist mit der Feststellung der dringenden betrieblichen Erfordernisse unter Einbeziehung einer fehlenden zumutbaren Weiterbeschäftigungsmöglichkeit der gesetzliche Kündigungsgrund gegeben, so ist nach richtiger Auffassung für eine zusätzliche Interessenabwägung kein Raum. Die vom Arbeitgeber verfolgten Ziele können nicht durch die möglicherweise entstehenden persönlichen Nachteile der betroffenen Arbeitnehmer in Frage gestellt werden. Das Kündigungsrecht darf erforderliche Kündigungen nicht verhindern. Das BAG hält eine einzelfallbezogene Interessenabwägung bei betriebsbedingten Kündigungsgründen nicht für völlig ausgeschlossen. Wenn überhaupt, könne sich dies allenfalls in seltenen Ausnahmefällen zugunsten des Arbeitnehmers auswirken. Jedenfalls sind nach Auffassung des BAG die aufgestellten Voraussetzungen für eine derartige "Härtefallregelung" so hoch anzusetzen, dass kaum mehr Raum für eine praktische Anwendung einer solchen Interessenabwägung bleibt.
Rz. 54
Bei der verhaltens- und personenbedingten Kündigung ist eine Abwägung der kollidierenden Interessen darauf zu beschränken, das Gewicht der Vertragsbeeinträchtigung im Einzelfall festzustellen. Es ist auf die vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen abzustellen. Billigkeitserwägungen, die keinen Bezug zum konkreten Kündigungsgrund haben, sind nicht relevant.
Rz. 55
Praxishinweis
Leider ist insb. erstinstanzlich festzustellen, dass über eine "Interessenabwägung" eigentlich sozial gerechtfertigte Kündigung für unwirksam erklärt werden. Z.B. hört man häufig, dass für diesen Arbeitnehmer doch "irgendwo ein Platz vorhanden sein müsse, auf dem er weiterbeschäftigt werden könne; der Arbeitgeber habe doch so viele Arbeitnehmer". Der Arbeitgeberanwalt sollte sich dadurch nicht beeinflussen lassen. In der Berufungsinstanz sind solche Entscheidungen selten. Rechtsanwälte sollten mehr Mut aufbringen, in zweiter Instanz eine Entscheidung herbeizuführen. Ohne dies statistisch belegen zu können, steigen nach der praktischen Erfahrung des Autors die Chancen, eine arbeitgeberseitige Kündigung durchzusetzen, in der Berufung signifikant.