I. Erweiterter Kündigungsschutz
Rz. 167
Nach § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG ist die Kündigung auch sozial ungerechtfertigt, wenn in Betrieben des privaten Rechts die Kündigung gegen eine Richtlinie nach § 95 BetrVG verstößt oder der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb desselben Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann und der Betriebsrat widersprochen hat. Für Betriebe und Verwaltungen des öffentlichen Rechts gilt Entsprechendes, soweit die Kündigung gegen eine Richtlinie über die personelle Auswahl bei Kündigungen verstößt oder der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in derselben Dienststelle oder einer anderen Dienststelle desselben Verwaltungszweiges an demselben Dienstort weiterbeschäftigt werden kann und die zuständige Personalvertretung aus einem dieser Gründe Einwendungen erhoben hat. Die Regelung knüpft damit an das Widerspruchsrecht des Betriebsrats nach § 102 Abs. 3 BetrVG und die Einwendungsmöglichkeiten des Personalrats nach § 85 Abs. 1 BPersVG bzw. nach den Landespersonalvertretungsgesetzen an. Wie sich aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG ergibt, wird mit dieser Regelung der Kündigungsschutz erweitert. Stellt das ArbG im Kündigungsschutzprozess fest, dass der form- und fristgerecht eingelegte Widerspruch des Betriebs- bzw. Personalrats begründet war, so ist die Kündigung allein aus diesem Grunde sozialwidrig. Die sonst (teilweise) notwendige Interessenabwägung (vgl. Rdn 53 ff.) entfällt. Es handelt sich deshalb um absolute Sozialwidrigkeitsgründe. Die praktische Bedeutung dieses Unterschiedes für den Kündigungsschutzprozess ist begrenzt.
Rz. 168
Die Widerspruchsgründe beziehen sich nicht nur auf betriebsbedingte, sondern gleichermaßen auf verhaltens- und personenbedingte Umstände. Die im Gesetz aufgezählten Tatbestände sind im Rahmen der Sozialwidrigkeitsprüfung auch dann zu berücksichtigen, wenn im Betrieb kein Betriebsrat gebildet ist oder es an einem fristgerechten Widerspruch fehlt. In diesem Fall sind die Widerspruchsgründe nach § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG im Rahmen der Interessenabwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in die Prüfung einzubeziehen.
II. Widerspruch des Betriebs- oder Personalrats
Rz. 169
Voraussetzung für den erweiterten Kündigungsschutz des Arbeitnehmers nach § 1 Abs. 2 S. 2 und 3 KSchG ist ein form- und fristgerechter Widerspruch des Betriebsrats nach § 102 Abs. 2 und 3 BetrVG bzw. des Personalrats nach § 85 Abs. 1 BPersVG bzw. den Landespersonalvertretungsgesetzen. Der Widerspruch bedarf der Schriftform und einer konkreten, fallbezogenen Begründung, die sich also nicht in einer bloßen Wiederholung des Gesetzeswortlautes erschöpft (eingehend zu den formalen Voraussetzungen sowie zu den Widerspruchsgründen siehe § 12 Rdn 138 ff.). Der form- und fristgerechte Widerspruch bewirkt die Erweiterung des Kündigungsschutzes nach § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG und löst unter den Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 BetrVG den betriebsverfassungsrechtlichen bzw. unter den Voraussetzungen des § 85 Abs. 2 BPersVG den personalvertretungsrechtlichen Weiterbeschäftigungsanspruch bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Kündigungsschutzverfahrens aus.
Rz. 170
Praxishinweis
Die relativ hohen Anforderungen in der Rspr. an die Begründung des Widerspruchs werden in der Praxis von den Betriebs- und Personalräten häufig nicht erfüllt. Der Rechtsanwalt des Arbeitnehmers wird daher diese prozesstaktisch und wirtschaftlich besonders relevante Möglichkeit nur nutzen können, wenn er rechtzeitig mit dem Betriebs- oder Personalrat in Kontakt tritt und die Formulierung des Widerspruchs überprüft bzw. selbst einen Entwurf fertigt.