Gerhard Ring, Line Olsen-Ring
I. Allgemeines
Rz. 45
Art. 12 EMRK – der aus Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 übernommen worden ist – schützt in weitgehender Übereinstimmung mit Art. 23 Abs. 2 des Zivilpakts (und entsprechend Art. 9 der Grundrechtecharta, nachstehende Rdn 47) die Ehe- und Familiengründungsfreiheit mit der Zielsetzung, dass ein Volljähriger selbst das Recht haben soll, die Entscheidung zu treffen, ob und wen er heiraten will: Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den innerstaatlichen Gesetzen, die die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen (Freiheit zur Eingehung einer Ehe mit dem Recht, selbst eine Entscheidung zu treffen in Bezug auf das Ob und die Person des Partners, oder auch eine Ehe nicht einzugehen) und eine Familie zu gründen (Freiheit zur Gründung einer Familie). Im Unterschied zu Art. 6 GG gewährt Art. 12 EMRK jedoch – da auch der EGMR die Norm ihrem Wortsinn nach interpretiert – keine darüber hinausgehende Schutzpflicht für bestehende Ehen und Familien. Wegen der doppelten Verweisung auf das nationalstaatliche Recht eröffnet die Norm auch keine ausdrückliche Möglichkeit zur Beschränkung der Rechte. Damit können die Mitgliedstaaten die Rechte unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Interessenabwägung – Willkürverbot) inhaltlich ausgestalten (sofern dadurch der Wesensgehalt des Art. 12 EMRK nicht berührt wird).
Rz. 46
Im Unterschied zu Art. 8 EMRK, der eine (auch nichteheliche) Familie (im Zeitraum vor der formellen Eheschließung) voraussetzt, schützt Art. 12 EMRK die Familiengründung durch Heirat. Art. 12 EMRK gibt jedoch keinen Anspruch auf Scheidung. Wenn ein Gericht nach umfangreicher Beweisaufnahme und Prüfung der Tatsachen unter korrekter Beachtung des materiellen und prozessualen Scheidungsrechts und der dazu ergangenen Rechtsprechung einen Scheidungsantrag abgelehnt hat, liegt darin keine Verletzung von Art. 12 EMRK. Eine Einschränkung des Rechts auf Eheschließung in den nationalen Rechtsordnungen kann sowohl auf Formvorschriften als auch auf inhaltlichen Bestimmungen auf der Grundlage allgemein anerkannter Erwägungen des öffentlichen Interesses (insbesondere in Bezug auf die Ehefähigkeit) beruhen: Insoweit ist es nicht zu beanstanden, wenn im Falle von Pflegebefohlenen das Recht auf Eheschließung (wegen ihrer beschränkten Geschäftsfähigkeit) einer vorherigen Genehmigung als sachlicher Grund für eine Beschränkung des Eheschließungsrechts bedarf (Zulässigkeit einer Genehmigung der Eheschließung im Falle von Pflegebefohlenen). Allerdings muss die Rechtmäßigkeit der Versagung einer Eheschließung in diesem Falle durch ein Rechtsmittel überprüft werden können. Die Freiheit der Eheschließung gegenüber einem Transsexuellen nach einer geschlechtsverändernden Operation wird durch die Verweigerung der Erlaubnis zur Eheschließung mit einem Angehörigen des nunmehr anderen Geschlechts verletzt.
Rz. 47
Da Art. 9 der Grundrechtecharta allgemein das Recht gewährt, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, geht die neuere Judikatur des EGMR (im Unterschied zur älteren Rechtsprechung) davon aus, dass Art. 12 EMRK nicht zwingend auf eine Eheschließung zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Er gewährt aber auch keinen Anspruch auf rechtliche Anerkennung der Lebensgemeinschaft homosexueller oder transsexueller Paare. Nach der EMRK sind die Staaten nicht verpflichtet, gleichgeschlechtlichen Paaren eine Ehe zu ermöglichen.
Rz. 48
Staaten (konkret: Italien) steht es – nach wie vor (sowohl nach Art. 12 als auch nach Art. 14 i.V.m. Art. 8 sowie i.V.m. Art. 12 EMRK) – frei, den Zugang auf Eheschließung auf verschiedengeschlechtliche Paare zu beschränken: Gleichwohl sind entsprechende Staaten im Hinblick auf das Bedürfnis gleichgeschlechtlicher Paare nach rechtlicher Anerkennung und Schutz ihrer Beziehung zur Schaffung eines rechtlichen Rahmens für die Anerkennung und den Schutz gleichgeschlechtlicher Beziehungen verpflichtet. Fehlt jegliche Form einer rechtlichen Anerkennung, begründet dies einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK. Andererseits liegt es im Ermessen der Staaten, ob sie eine im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Eheschließung rechtlich anerkennen oder nicht, da ein legitimes staatliches Interesse daran besteht, zu verhindern, dass eigene Staatsangehörige im Ausland auf im nationalen Recht nicht anerkannte Rechtsinstitute zurückgreifen.
Rz. 49
Eingriffe in die Ehe- und Familiengründungsfreiheit erfolgen im Rahmen der nationalen Rechtsordnung durch formelle wie materielle Vorgaben hinsichtlich der Eheschließung (wie bspw. Regelungen im Hinblick auf die Urteilsfähigkeit [Ehefähigkeit], sonstige Ehehindernisse und -verbote, die Notwendigkeit einer Ehefähigkeitsbescheinigung, das Verbot der Bigamie bzw. Polygamie oder den ordre public bzw. das Verfahren [Publizität]). Keinen Eingriff bildet hingegen z.B. eine unterschiedliche Besteuerung v...