1. Frage
Rz. 112
Die Gegenseite hat fristwahrend Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ist noch nicht erfolgt. Noch vor einer Vertretungsanzeige zur Akte wurde die Berufung zurückgenommen und der Berufungskläger hat die Kosten zu tragen. Gegen die beantragte 1,1-Verfahrensgebühr wendet er ein, diese könne nicht geltend gemacht werden. – Zu Recht?
2. Antwort
Rz. 113
Der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass auch bei nur fristwahrender Einlegung eines Rechtsmittels und Rücknahme vor Ablauf der Begründungsfrist der Rechtsmittelgegner sich einen Rechtsanwalt zu Hilfe nehmen darf, weil er anwaltlichen Rat in einer von ihm als risikohaft empfundenen Situation für erforderlich halten darf. Etwas anderes könne ausnahmsweise nur dann gelten, wenn das Gericht bereits eine Verwerfung des vom Gegner eingelegten Rechtsbehelfs angekündigt hatte, da sich die Partei dann nicht in einer risikobehafteten Situation befinde.
Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch ist aber zunächst, dass überhaupt eine Verfahrensgebühr angefallen ist. Vorliegend kommt es daher auf den Auftrag und die entfalteten Tätigkeiten an. Die reduzierte Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV RVG setzt zunächst nach Vorbem. 3 Abs. 1 VV RVG einen unbedingten Prozessauftrag voraus. Liegt ein solcher vor, entsteht die Verfahrensgebühr für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Die Empfangnahme der Rechtsmittelschriften und ihre Mitteilung an den Auftraggeber gehören zunächst nach § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 9 RVG noch mit zum vorangegangenen Rechtszug. Auch eine mit der Entgegennahme der Berufungsschrift verbundene Prüfung von Fragen, die gebührenrechtlich zur ersten Instanz gehören, soll die Verfahrensgebühr für die Berufungsinstanz nicht auslösen.
Hat der Anwalt aber nach dem unbedingten Prozessauftrag eine gebührenauslösende Tätigkeit im Hinblick auf das Berufungsverfahren entfaltet, die über die bloße Neben- bzw. Abwicklungstätigkeit der ersten Instanz hinausgeht, z.B. über die bloße Entgegennahme des Auftrags hinaus Informationen für den Berufungsrechtszug entgegen genommen, das erstinstanzliche Urteil und die Akten durchgearbeitet oder mit dem Mandanten erörtert, ob auf das Rechtsmittel bereits vor dessen Begründung reagiert werden soll, ist damit eine 1,1-Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV RVG entstanden. Die Erstattung ist nicht davon abhängig, dass der Anwalt einen Schriftsatz eingereicht hat.
Rz. 114
Praxistipp
Der Rechtsmittelgegner ist grundsätzlich berechtigt, auch bei nur fristwahrend eingelegtem Rechtsmittel unmittelbar einen Rechtsanwalt zu beauftragen. Da sich der Anfall der Verfahrensgebühr ohne eine Vertretungsanzeige weder für den Rechtsmittelführer noch für das Gericht ergibt, müssen im Kostenfestsetzungsantrag Auftrag und Tätigkeit dargelegt werden. Es empfiehlt sich, zu den Gesprächen mit dem Mandanten Aufzeichnungen zu machen, um dies später vortragen zu können.