Dr. iur. Klaus-Peter Horndasch
Rz. 1199
Der Krankheitsbegriff ist weit auszulegen und entspricht den entsprechenden Begriffen im Sozialversicherungs- und Beamtenrecht (§ 1247 Abs. 2 RVO bzw. § 42 Abs. 1 S. 1 BBG).
Krankheit ist danach ein "objektiv fassbarer regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf".
Der Krankheit stehen Gebrechen oder Schwächen der körperlichen oder geistigen Kräfte gleich.
Gebrechen sind von der Regel abweichende körperliche oder geistige Zustände, mit deren Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist, beispielsweise Taubheit, Blindheit, körperliche Behinderungen, aber auch Altersabbau, geringe Intelligenz, Schwachsinn und sonstige, nicht kompensierbare Persönlichkeitsstörungen.
Rz. 1200
Auch Suchterkrankungen ohne Verschuldensaspekt, z.B. durch Alkohol, Drogen oder Medikamente fallen hierunter, sofern sie dazu führen, dass der Unterhaltsberechtigte infolge der dadurch hervorgerufenen Willensschwäche keine geregelte Erwerbstätigkeit durchhalten könnte. In gleicher Weise trifft dies für Übergewicht oder Magersucht zu.
Rz. 1201
Wegen des weiten Krankheitsbegriffs des § 1572 BGB ist auch eine Depression eine Erkrankung mit der möglichen Folge eines Unterhaltsanspruches nach § 1572 BGB.
In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob die Depression im Zusammenhang mit der Ehe oder als Folge der Trennung und Scheidung entstanden ist. Zu unterscheiden ist aber eine lediglich depressive Verstimmung, die in der Regel vorübergehender Natur ist von der schweren ggf. rezidivierenden Depression. Lediglich die letztere Art der Depression ist geeignet, einen Unterhaltsanspruch nach § 1572 BGB zu begründen.
Rz. 1202
Unter den Krankheitsbegriff des § 1572 BGB fallen auch Personen, die in Folge einer seelischen Störung, z.B. einer Neurose, erwerbsunfähig sind. In Fällen von Renten- und Unterhaltsneurosen flüchten sich Unterhaltsberechtigte aus Angst, ihren Renten- oder Unterhaltsanspruch zu verlieren, in eine Krankheit. Als Krankheit im Sinne des § 1572 BGB sind solche seelischen Störungen dann anzusehen, wenn sie aus eigener Kraft nicht überwindbar sind.
Rz. 1203
Die Erkrankung muss langfristig angelegt sein. Bei kurzfristigen Erkrankungen besteht in der Regel bei Erwerbstätigen ein Anspruch auf Lohnersatzleistungen wie Krankengeld etc. Soweit und solange solche Leistungen gewährt werden, besteht kein Anspruch nach § 1572 BGB. Unfallrenten haben neben dem Entschädigungscharakter auch Lohnersatzfunktion, sodass sich ihre Zahlung bedarfsmindernd auswirkt.
Rz. 1204
Die Krankheit des Berechtigten muss ursächlich dafür sein, dass keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann. Der ursächliche Zusammenhang bedarf sorgfältiger Prüfung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine medizinische Wahrheit nicht gerechtfertigte Untätigkeit auf Kosten des ehemaligen Ehegatten über einen Unterhaltsanspruch finanziert wird.
Rz. 1205
Kann der Berechtigte in Folge von Krankheit seinen ursprünglichen Beruf nicht mehr ausüben, demgegenüber jedoch einen anderen Beruf, der eine angemessene Erwerbstätigkeit darstellt, besteht ein Anspruch aus § 1572 BGB nicht. Zumutbarkeitsmaßstab ist die angemessene Erwerbstätigkeit.
Rz. 1206
Hinweis
Unternimmt der Unterhaltsberechtigte allerdings nicht alles Zumutbare, um seine Erkrankung behandeln zu lassen, verliert er den auf § 1572 BGB gestützten Unterhaltsanspruch.
Rz. 1207
Er hat ärztliche Anweisungen zu befolgen und ggf. eine Diät einzuhalten. Bei Fettleibigkeit und den damit verbundenen Erkrankungsfolgen ist es zumutbar, bereits zum Zeitpunkt des Erkennens der Folgen alles individuell Mögliche zu tun, um abzunehmen und dadurch sich abzeichnende gesundheitliche Probleme im Anfangsstadium in den Griff zu bekommen.
Wer sich konkret abzeichnenden Folgen des eigenen Verhaltens nicht stellt und diese in zumutbarer Weise verändert, entspricht seiner Obliegenheit zur Behandlung nicht.
Rz. 1208
Den Berechtigten trifft auch die Obliegenheit, sich neben der Behandlung ggf. auch einer Operation zu unterziehen, sofern dies gefahrlos und hinreichend aussichtsreich ist. Operationen immanent zugrunde liegende Gefahren sind allerdings hinzunehmen. Sie dürfen aber über die Üblichkeit sonstiger operativer Eingriffe (Gefahren in der Anästhesie, für Herz und Kreislauf etc.) nicht hinausgehen.
Sind Willens- und Steuerungsfähigkeit krankheitsbedingt ausgeschlossen oder zumindest erheblich eingeschränkt, ist allerdings eine Überwindbarkeit zu verneinen.