Gundolf Rüge, Dr. iur. Holger Fahl
Rz. 85
Die Anlagenhaftung nach § 2 Abs. 1 S. 2 HaftpflG (Zustandshaftung) setzt voraus, dass ein Körper-, Gesundheits- oder Sachschaden auf das Vorhandensein einer der in Satz 1 genannten Anlagen zurückzuführen ist, ohne auf den Wirkungen des geleiteten Stoffes oder Stroms zu beruhen. Diese Haftung für die mechanischen Wirkungen der Anlage gründet nicht darauf, dass die Anlagen für sich gesehen gefährlicher wären als andere Einrichtungen, sondern darauf, dass sich diese Anlagen größtenteils auf öffentlichen Flächen oder fremden Grundstücken befinden und dadurch einen weiten Kreis von Personen gefährden können. Die Anlage muss den Schaden adäquat verursacht haben. Der Schaden muss außerdem Auswirkung derjenigen Gefahren sein, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll. Mithin bezweckt die Zustandshaftung den Schutz des allgemeinen Verkehrs vor Schäden, die auf den nicht ordnungsgemäßen Zustand von Leitungsanlagen nach § 2 Abs. 1 HaftpflG zurückzuführen sind. Derjenige, der im Bewusstsein der Risiken eine Gefahrenquelle eröffnet, muss bereit sein, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen, ohne dass es darauf ankommen darf, ob im Einzelfall ein Verschulden nachweisbar ist.
Rz. 86
Auch die Zustandshaftung beginnt mit der Fertigstellung der Leitungsanlage und endet mit der endgültigen Betriebsaufgabe. Zwar geht gerade von Anlagen, die nach Betriebsaufgabe nicht mehr gewartet und gepflegt werden, eine erhöhte Gefahr der mechanischen Auswirkung auf Sachen und Personen aus. Jedoch erfasst § 2 HaftpflG enumerativ nur Strom- oder Rohrleitungsanlagen, die dem Transport der genannten Stoffe und Energien dienen, mithin dazu bestimmt sind. Diese Zweckbestimmung bleibt bei zeitweiser Betriebsunterbrechung erhalten, endet indes mit endgültiger Betriebsaufgabe. Danach verbleibt es lediglich bei der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht.
Rz. 87
Anders als bei der Wirkungshaftung sieht das Gesetz für die Zustandshaftung eine Einschränkung auf im Zeitpunkt der Unfallverursachung nicht "ordnungsmäßige" Anlagen vor (§ 2 Abs. 1 S. 2 2. Hs HaftpflG, "es sei denn"). Für ordnungsmäßige Anlagen ist die Haftung ausgeschlossen. Darlegungs- und beweisbelastet für den ordnungsgemäßen Zustand der Anlage ist der Inhaber, ohne dass mit dieser Entlastungsmöglichkeit eine Abänderung der Gefährdungshaftung in eine Verschuldenshaftung mit Verschuldensvermutung verbunden wäre. Ordnungsmäßig ist der Zustand einer Anlage, solange er den anerkannten Regeln der Technik entspricht und unversehrt ist (§ 2 Abs. 1 S. 3 HaftpflG). Dieses Kriterium stellt auf den objektiven Zustand der Anlage zur Zeit der Schadensverursachung ab. Die Haftung greift deshalb auch dann durch, wenn eine kurz vorher noch völlig ordnungsgemäße Anlage durch Naturgewalten oder durch rechtswidriges Verhalten Dritter beschädigt ("versehrt") wird, oder wenn die ursprünglich nach den anerkannten Regeln der Technik errichtete Anlage im Zeitpunkt der Schädigung den inzwischen veränderten Regeln der Technik nicht mehr entspricht ("solange").
Rz. 88
Anerkannte Regeln der Technik sind generelle Anweisungen und Anleitungen jeder Art, die für die Herstellung, Verwendung und den Betrieb technischer Geräte und Anlagen von Bedeutung sind. Sie befinden sich in technischen Regelwerken, etwa DIN-Normen, für elektrische Energieanlagen in den Bestimmungen des Verbandes Deutscher Elektrotechniker (VDE), für Gasanlagen in den Bestimmungen des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW) oder in Fachzeitschriften. Die in § 49 Abs. 2 EnWG enthaltene gesetzliche Vermutung für die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik, wenn die VDE- bzw. DVGW-Regeln eingehalten worden sind, gilt auch für die Zustandshaftung des § 2 HaftpflG. Die maßgeblichen Regeln der Technik sind jedoch stets im Einzelfall zu ermitteln.
Rz. 89
Beispiele für Zustandshaftung aus Rechtsprechung und Schrifttum sind: Schäden durch herabgefallene, nicht Strom führende Leitungsdrähte, Berührung mit tief herabhängender Stromleitung, umgestürzte Leitungsmasten, Bruch einer Wasserleitung durch vorschriftswidrigen Überbau mit Fernwärmeleitung, Zerstörung einer Gasleitung durch Bruch einer Wasserleitung, Straßeneinbruch durch Einsturz einer darunter verlaufenden Rohrleitung, Sturz eines Fußgängers in einen Kanalschacht, von dem Unbefugte den Deckel entfernt haben, Schäden durch hochstehende Kanal- oder Gullydeckel.