Gundolf Rüge, Dr. iur. Holger Fahl
1. Haftungsgrundlagen
Rz. 56
Für Fahrgäste gilt seit dem 29.7.2009 eine europaeinheitliche Schadenshaftung (vgl. oben Rdn 2). Haftungsgrundlage (und innerstaatliches Recht, § 1 Fahrgastrechte-Anwendungsgesetz) sind nach Maßgabe des Art. 11 der VO (EG) Nr. 1371/2007 (Fahrgastrechteverordnung) die Art. 26 § 1 und Art. 36 § 1 CIV (Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen; BGBl 2002 II, S. 2149). Diese Haftungsregeln gelten nur für nach den Eisenbahngesetzen genehmigte Eisenbahnen, die aufgrund Beförderungsvertrages Fahrgäste befördern, und für diesen Fahrgästen aufgrund eines Unfalls zugefügte Schäden.
Rz. 57
Folglich sind von dieser Haftung insbesondere Straßenbahnen, U-Bahnen, Schwebe-, Berg- und ähnliche Bahnen, die keine genehmigungspflichtigen Eisenbahnen sind, sowie der Schienengüterverkehr ausgenommen. Für diese gilt weiter ausschließlich das HaftpflG. Abweichungen gelten für den Schienenpersonennahverkehr (vgl. Art. 1 Fahrgastrechteverordnung-Anwendungsgesetz v. 26.5.2009 i.V.m. § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. la des Allgemeinen Eisenbahngesetzes v. 27.12.1993) und Verkehrsdienste des Schienenpersonennahverkehrs, die hauptsächlich aus Gründen historischen Interesses oder zu touristischen Zwecken unterhalten werden. Diese Haftung erstreckt sich nicht auf Eisenbahnunfälle von Personen, die keine Fahrgäste sind, wie Fußgänger, Radfahrer, Kraftfahrzeughalter oder Fremdbeschäftigte, für die ausschließlich § 1 HaftpflG gilt.
Rz. 58
Die Haftung ist nicht als Gefährdungshaftung, sondern als eine Verschuldenshaftung ausgestaltet, bei der das Verschulden des Bahnbetreibers vermutet wird. Die Haftung greift ausschließlich gegenüber Eisenbahnverkehrsunternehmen, weil nur diese mit Fahrgästen Beförderungsverträge schließen; sie betrifft deshalb nicht Eisenbahninfrastrukturunternehmen oder Betreiber von Schienenwegen.
Rz. 59
Die Haftung nach den CIV hat in den von ihr erfassten Fällen Vorrang vor den nationalen Haftungsregeln. Denn nach Art. 52 § 1 CIV kann ein Schadensersatzanspruch gegen den Beförderer, auf den die CIV Anwendung finden, nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen der CIV geltend gemacht werden. Dies gilt für alle in Betracht kommenden Schadensersatzansprüche, mögen sie auf Delikt, Vertrag oder einem anderen Rechtsgrund beruhen. Sind die einschlägigen nationalen Haftungsregeln für den Geschädigten günstiger, so sind diese gemäß der Öffnungsklausel des Art. 11 der VO Nr. 1371/2007 anzuwenden.
2. Haftungsvoraussetzungen
Rz. 60
Die Haftung "für den Schaden, der dadurch entsteht, dass der Reisende durch den Unfall im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbetrieb während seines Aufenthaltes in den Eisenbahnwagen oder beim Ein- oder Aussteigen getötet, verletzt oder sonst in seiner körperlichen oder geistigen Integrität beeinträchtigt wird" (Art. 26 § 1 CIV), trifft den Beförderer. Dieser Begriff meint nach Art. 3 Nr. 2 der VO (EG) Nr. 1371/2007 das vertragliche Eisenbahnunternehmen, mit dem der Fahrgast den Beförderungsvertrag geschlossen hat, oder eine Reihe aufeinander folgender Unternehmen, die auf der Grundlage dieses Vertrages haften.
Rz. 61
Diese Haftung erfasst folglich (anders als § 1 HaftpflG) keine Unfallschäden, die außerhalb des Eisenbahnwagens und des Ein- oder Aussteigens entstehen, etwa des wartenden Reisenden, der vom Sog eines durchfahrenden Zuges erfasst und verletzt wird.
3. Haftungsumfang
Rz. 62
In zwei Fällen geht die Haftung nach den CIV über die Haftung nach dem HaftpflG hinaus. Einerseits erfasst die Haftung des Beförderers auch Unfälle während der Beförderung von Eisenbahnwagen auf einem Fährschiff (Art. 31 § 2 CIV), andererseits die Beschädigung, den Verlust oder die verspätete Auslieferung von Reisegepäck (Art. 36 § 1 CIV gegenüber § 1 Abs. 3 HaftpflG).
Rz. 63
Der Umfang des Schadensersatzes entspricht mit den Art. 27 und 28 CIV bei Personenschäden den §§ 5 und 6 HaftpflG. Allerdings begründen die CIV keinen Anspruch auf Leistung von Schmerzensgeld (wie § 6 S. 2 HaftpflG) und wegen entgangener Dienste (wie § 845 BGB) oder von Hinterbliebenengeld (§ 5 Abs. 3 HaftpflG), so dass insoweit gemäß Art. 29 CIV diese Bestimmungen gelten.
4. Haftungsausschlüsse/Mitverschulden
Rz. 64
Haftungsausschlüsse gelten nach Art. 26 § 2 CIV, wenn
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der Unfall durch außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegende Umstände verursacht worden ist (a), |
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der Unfall auf ein Verschulden des Reisenden zurückzuführen ist (b), |
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der Unfall auf das Verhalten eines Dritten (nicht eines anderen Eisenbahnunternehmens) zurückzuführen ist (c) und |
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der Beförderer die Umstände ... |