I. Allgemeines
Rz. 14
Das Mitverschulden nach § 254 Abs. 1 BGB setzt für eine Mithaftung des Geschädigten einen vorwerfbaren Verstoß gegen seine eigenen Interessen voraus. Den Geschädigten trifft also dann ein Mitverschulden im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB, wenn er die Sorgfalt vernachlässigt hat, die ein verständiger Mensch zur Vermeidung eigener Schäden anzuwenden pflegt (BGH VersR 1979, 532, 533).
Rz. 15
Ein Mitverschulden setzt nicht voraus, dass der Geschädigte gegen gesetzliche Verhaltensvorschriften verstößt.
Beispiel
Ein Motorradfahrer, der keinen Schutzhelm trägt, obwohl zum Unfallzeitpunkt noch keine allgemeine Pflicht zum Tragen eines Schutzhelmes beim Motorradfahren bestand, muss sich dennoch ein Mitverschulden anrechnen lassen (BGH VersR 1979, 369). Dies soll nach OLG Brandenburg (VersR 2009, 1284) sogar dann in Betracht kommen, wenn ein Motorradfahrer zwar einen Helm, jedoch keine Schutzkleidung getragen hat.
Zur Helmtragepflicht bei Radfahrern vgl. unten Rdn 55.
Rz. 16
Ähnliches gilt dann, wenn ein Insasse nicht angegurtet war, es sei denn, dass für den Insassen nach §§ 21a, 46 Abs. 1 Nr. 5b StVO gar keine Gurtanlegepflicht bestand. Dies gilt auch, wenn die Voraussetzungen vorlagen, unter denen die Befreiung von der Gurtanlegepflicht bewilligt werden müsste (BGH NJW 1993, 53; vgl. im Einzelnen Rdn 56 ff.).
II. Betriebsgefahr und Mitverschulden
Rz. 17
Haben sich bei einem Verkehrsunfall auf der einen Seite das Verschulden des Schädigers, auf der anderen Seite lediglich die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs des Geschädigten ursächlich ausgewirkt, kann sich die Betriebsgefahr, die ja keinerlei Verschulden voraussetzt, entgegen dem Gesetzeswortlaut bei der Haftungsabwägung dennoch nach § 254 BGB bemerkbar machen.
Rz. 18
Beispiel
Ein verletzter Kraftfahrzeughalter, der sich nicht durch den Nachweis höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG entlasten kann und der auch im Rahmen einer Gesamtabwägung im Rahmen des § 17 StVG den Unabwendbarkeitsbeweis nicht führen kann, muss sich bei seinem Schmerzensgeldanspruch auch die eigene mitursächliche Betriebsgefahr entgegenhalten lassen (BGH VersR 1956, 370; 1963, 359).
III. Voraussetzungen eines Mitverschuldens
1. Deliktsfähigkeit
Rz. 19
Ein Mitverschulden kann dem Geschädigten nur dann entgegengehalten werden, wenn er deliktsfähig ist. Dies ist bei Kindern unter sieben Jahren nach § 828 Abs. 1 BGB, bei Kindern bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres bei Unfällen im motorisierten Verkehr (§ 828 Abs. 2 BGB) überhaupt nicht, ansonsten bei Kindern und Jugendlichen zwischen dem siebten bzw. zehnten und 18. Lebensjahr nach § 828 Abs. 3 BGB nur bedingt der Fall (im Einzelnen dazu vgl. § 2 Rdn 177 ff.). Deliktsfähigkeit kann aber auch nach § 827 BGB bei Bewusstlosigkeit oder einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit fehlen (dazu vgl. § 2 Rdn 192 ff.).
2. Kausalität
Rz. 20
Weitere Voraussetzung einer Mithaftung nach § 254 BGB ist, dass sich der vorwerfbare Verstoß gegen eigene Interessen kausal auf den Schaden ausgewirkt hat (vgl. z.B. jüngst BGH v. 24.9.2013 – VI ZR 255/12 – VersR 2014, 80).
Rz. 21
Dies führt dazu, dass sich beispielsweise ein geschädigter Motorradfahrer, der keinen Helm trug, Abzüge nur gefallen lassen muss, soweit sich das Nichttragen des Helmes überhaupt nachweislich auf den entstandenen Schaden ausgewirkt hat. Somit sind Abzüge nicht gerechtfertigt für Fahrzeugschaden, Kleiderschaden und das Schmerzensgeld, soweit es sich um andere als Kopfverletzungen handelt, z.B. Beinbruch.
Rz. 22
Die Grenze des Mitverschuldensvorwurfs gegenüber dem Geschädigten ist aber spätestens dann erreicht, wenn der Geschädigte einen Schaden erleidet, der den von ihm selbst verletzten Sorgfaltsanforderungen nicht mehr zugerechnet werden kann.
Rz. 23
Beispiel
Der Geschädigte, der schuldhaft einen Verkehrsunfall mitverursacht und infolgedessen ins Krankenhaus eingeliefert wird, muss sich bei einer dort erfolgenden ärztlichen Fehlbehandlung dem behandelnden Arzt gegenüber sein Mitverschulden beim Verkehrsunfall nicht mehr schadensmindernd entgegenhalten lassen (BGH VersR 1971, 1123, 1124).
3. Rechtsfolge
Rz. 24
Erst wenn ein Mitverschulden oder eine Mitverursachung unter den vorgenannten Voraussetzungen festgestellt oder unstreitig ist, kann eine Haftungsabwägung nach § 254 Abs. 1 BGB erfolgen.
4. Beweisfragen
Rz. 25
Die Beweislast für das Verschulden des Geschädigten und dessen Ursächlichkeit trägt der Schädiger (BGH NJW 1994, 3105). Soweit es aber um Umstände aus der Sphäre des Geschädigten geht, kann dieser unter Umständen an der Sachaufklärung mitwirken müssen, gegebenenfalls muss er im Rahmen einer sekundären Darlegungslast darlegen, was er zur Schadensminderung unternommen hat (OLG Frankfurt NJW-RR 1994, 23).
Rz. 26
Beweismaßstab ist der Strengbeweis des § 286 ZPO. Die Frage, inwieweit sich ein Mitverschulden auf den Schadensumfang ausgewirkt hat, ist nach den Regeln des Freibeweises nach § 287 ZPO zu beurteilen, wenn es um den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität im Falle des § 254 Abs. 2 BGB geht (BGH zfs 1986, 327 = VersR 1986, 1208 = DAR 1986, 356 = NJW 1986, 2946).
Rz. 27
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