1. Deliktsfähigkeit
Rz. 19
Ein Mitverschulden kann dem Geschädigten nur dann entgegengehalten werden, wenn er deliktsfähig ist. Dies ist bei Kindern unter sieben Jahren nach § 828 Abs. 1 BGB, bei Kindern bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres bei Unfällen im motorisierten Verkehr (§ 828 Abs. 2 BGB) überhaupt nicht, ansonsten bei Kindern und Jugendlichen zwischen dem siebten bzw. zehnten und 18. Lebensjahr nach § 828 Abs. 3 BGB nur bedingt der Fall (im Einzelnen dazu vgl. § 2 Rdn 177 ff.). Deliktsfähigkeit kann aber auch nach § 827 BGB bei Bewusstlosigkeit oder einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit fehlen (dazu vgl. § 2 Rdn 192 ff.).
2. Kausalität
Rz. 20
Weitere Voraussetzung einer Mithaftung nach § 254 BGB ist, dass sich der vorwerfbare Verstoß gegen eigene Interessen kausal auf den Schaden ausgewirkt hat (vgl. z.B. jüngst BGH v. 24.9.2013 – VI ZR 255/12 – VersR 2014, 80).
Rz. 21
Dies führt dazu, dass sich beispielsweise ein geschädigter Motorradfahrer, der keinen Helm trug, Abzüge nur gefallen lassen muss, soweit sich das Nichttragen des Helmes überhaupt nachweislich auf den entstandenen Schaden ausgewirkt hat. Somit sind Abzüge nicht gerechtfertigt für Fahrzeugschaden, Kleiderschaden und das Schmerzensgeld, soweit es sich um andere als Kopfverletzungen handelt, z.B. Beinbruch.
Rz. 22
Die Grenze des Mitverschuldensvorwurfs gegenüber dem Geschädigten ist aber spätestens dann erreicht, wenn der Geschädigte einen Schaden erleidet, der den von ihm selbst verletzten Sorgfaltsanforderungen nicht mehr zugerechnet werden kann.
Rz. 23
Beispiel
Der Geschädigte, der schuldhaft einen Verkehrsunfall mitverursacht und infolgedessen ins Krankenhaus eingeliefert wird, muss sich bei einer dort erfolgenden ärztlichen Fehlbehandlung dem behandelnden Arzt gegenüber sein Mitverschulden beim Verkehrsunfall nicht mehr schadensmindernd entgegenhalten lassen (BGH VersR 1971, 1123, 1124).
3. Rechtsfolge
Rz. 24
Erst wenn ein Mitverschulden oder eine Mitverursachung unter den vorgenannten Voraussetzungen festgestellt oder unstreitig ist, kann eine Haftungsabwägung nach § 254 Abs. 1 BGB erfolgen.
4. Beweisfragen
Rz. 25
Die Beweislast für das Verschulden des Geschädigten und dessen Ursächlichkeit trägt der Schädiger (BGH NJW 1994, 3105). Soweit es aber um Umstände aus der Sphäre des Geschädigten geht, kann dieser unter Umständen an der Sachaufklärung mitwirken müssen, gegebenenfalls muss er im Rahmen einer sekundären Darlegungslast darlegen, was er zur Schadensminderung unternommen hat (OLG Frankfurt NJW-RR 1994, 23).
Rz. 26
Beweismaßstab ist der Strengbeweis des § 286 ZPO. Die Frage, inwieweit sich ein Mitverschulden auf den Schadensumfang ausgewirkt hat, ist nach den Regeln des Freibeweises nach § 287 ZPO zu beurteilen, wenn es um den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität im Falle des § 254 Abs. 2 BGB geht (BGH zfs 1986, 327 = VersR 1986, 1208 = DAR 1986, 356 = NJW 1986, 2946).
Rz. 27
Beachte
Der Einwand des Mitverschuldens ist vom Gericht von Amts wegen zu beachten (BAG NJW 1971, 957). Der Schädiger muss aber die dem Mitverschulden des Geschädigten zugrunde liegenden Tatsachen vortragen und beweisen, soweit sich das Mitverschulden nicht aus dem unstreitigen Sachverhalt ergibt (BGH NJW-RR 1986, 1083).
5. Nebentäterschaft
Rz. 28
Probleme im Rahmen des Mitverschuldens tauchen häufig auch in den Fällen der sog. Nebentäterschaft auf. Das sind die Fälle, in denen mehrere Verantwortliche durch verschiedene selbstständige Verkehrsverstöße einen Schaden herbeigeführt haben.
Rz. 29
Nach § 840 Abs. 1 BGB haften sämtliche Nebentäter nebeneinander, sofern sie jeweils durch ihren Tatbeitrag den Schaden mitverursacht haben, als Gesamtschuldner (vgl. jüngst BGH VersR 2010, 1662).
Rz. 30
Die Haftungsquoten der einzelnen Nebentäter können sich bei einem Mitverschulden des Geschädigten verschieben. In diesen Fällen ist das Mitverschulden des Geschädigten jedem der Schädiger gegenüber gesondert abzuwägen. Die Schädiger müssen insgesamt jedoch nicht mehr als den Teil des Schadens aufbringen, der bei einer Gesamtschau des Unfallgeschehens dem Anteil der Verantwortung entspricht, den sie im Verhältnis zur Mitverantwortung des Geschädigten insgesamt zu tragen haben.
Rz. 31
Beispiel
Der Geschädigte erleidet bei einem Verkehrsunfall einen Schaden in Höhe von 10.000 EUR, der von ihm selbst zu ¼, von drei weiteren Schädigern ebenfalls zu je ¼ verursacht wurde. Der Geschädigte kann von jedem Schädiger entsprechend dem o.g. Grundsatz isoliert höchstens die Hälfte seines Schadens verlangen, da das Verschulden jedes einzelnen Schädigers im Verhältnis genauso hoch ist wie das Verschulden des Geschädigten. Insgesamt kann der Geschädigte von allen Schädigern gemeinsam im Endeffekt ¾ seines Schadens verlangen, da ihn selbst ja nur eine Mithaftung von ¼ trifft.
Rz. 32
Wegen des im Endeffekt vorzunehmenden Gesamtschuldnerausgleichs nach § 426 BGB spielen derartige Fragen in der Praxis bisher kaum eine Rolle, weil hinter jedem Schadensverursacher in der Regel ein (zahlungskräftiger) Kraftfahrthaft...