Rz. 55

Die Ermahnung wird schriftlich ausgesprochen, wenn sich 4 oder 5 Punkte beim Fahrerlaubnisinhaber angesammelt haben. Denklogisch ist dies mindestens der zweite Verstoß, der geahndet und eingetragen wird. Es handelt sich um einen wiederholt auffälligen Kraftfahrer.[42] Das Ziel der Ermahnung ist nicht nur über den schriftlichen Hinweis, wie das Fahreignungs-Bewertungssystem funktioniert, Verständnis zu wecken, sondern eine Verhaltensänderung zu bewirken, weil ein freiwilliges Fahreignungsseminar auf dieser Stufe zu einem Punkteabzug von 1 Punkt führt, solange noch nicht die mit 6–7 Punkten zweite Maßnahmestufe erreicht ist. Denn einer der Ausgangspunkte der Reform fußt darauf, dass wiederholt auffällige Kraftfahrer ein besonders hohes Risiko für das Entstehen von weiteren Verkehrsunfällen in sich bergen.[43]

Es wird weiterhin auf die nächste Stufe der Verwarnung hingewiesen. Rechtsmittel sind lediglich gegen die Kostenentscheidung möglich.

Richtig ist jedenfalls, dass nach der ursprünglich geltenden Fassung und der darauf ­fußenden Rechtsprechung der Sinn und Zweck des Mehrfachtäter-Punktsystems sicherstellen sollte, dass ein Fahrerlaubnisinhaber alle Maßnahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems stufenweise durchlaufen soll, mit den Maßnahmen stufenweise gewarnt wird und die Möglichkeit der Verhaltensänderung erhält, bevor ihm die Fahrerlaubnis entzogen werden kann.[44] Das Verwaltungsgericht Berlin hat diese Grundsätze ebenfalls auf die ab dem 1.5.2014 gültige Fassung des Straßenverkehrsgesetzes angewandt. Für die Frage, ob seit dem 5.12.2014 etwas anderes gelten muss, führt das Verwaltungsgericht Berlin wörtlich aus:[45]

Zitat

"Damit ist der Gesetzgeber zwar in dem – hier nicht einschlägigen – Sonderfall der Punktereduktion vom Tattagsprinzip abgewichen und lässt danach eine Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu, wenn sämtliche Verkehrsverstöße vor Zugang der Verwarnung begangen wurden. In der explizit geregelten Konstellation misst demnach der Gesetzgeber den Maßnahmen der ersten und zweiten Stufe keine Warnfunktion zu. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers soll jedenfalls mit der ab 5.12.2014 gültigen Änderung eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zur Punkteberechnung und Warnfunktion der ersten und zweiten Stufe erreicht werden. [...] Bei der neu eingefügten Regelung des §4 Abs. 6 Satz 4 StVG handelt es sich aber um einen nicht verallgemeinerungsfähigen Sonderfall. Einer Auslegung der Regelungen in §4 Abs. 5 und 6 StVG zum Maßnahmekatalog im Sinne des Willens des Gesetzgebers steht entgegen, dass dieser in der gesetzlichen Regelung keinen Niederschlag gefunden hat. Vielmehr ist in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG explizit das Tattagsprinzip geregelt. Zudem ergibt die in §4 Abs. 6 Satz 2 StVG vorgeschriebene Punktereduktion bei verspäteter Ermahnung oder Verwarnung nur dann Sinn, wenn diesen Maßnahmen erzieherische Wirkung gegenüber dem betreffenden Fahrerlaubnisinhaber zukommen soll und ihm damit vor einer Entziehung nochmals die Chance eingeräumt werden soll, durch eine grundlegende Änderung des Fahrverhaltens die Entziehung seiner Fahrerlaubnis abzuwenden. Wenn demgegenüber – wie die Gesetzesbegründung ausführt – diese Maßnahmen in erster Linie Informationszwecken für den Betroffenen dienen würden, bliebe ungeklärt, weshalb Punktetäter allein aufgrund des verspäteten Ergreifens einer Maßnahme eine Punktereduktion erhalten sollten." (Hervorhebungen durch die Autorin)

Dieser Argumentation kann man nur folgen, da nämlich das gesamte Gesetzgebungsverfahren immer im Blick hatte, Verhaltensänderungen bei den betroffenen Fahrerlaubnisinhabern zu bewirken. Natürlich ist die Verkehrssicherheit ein wichtiges Gut, allerdings stellt sich die Frage, warum überhaupt Punkte aufgeführt und gesammelt werden sollen. Warum die zuständigen Behörden mit der Aufgabe der Information befasst werden sollen, komplizierte Berechnungen durchführen müssen, ggf. Punktereduktionen vorzunehmen haben, wenn es gar nicht auf eine Verhaltensänderung bei den Betroffenen ankommen soll, ist nicht ersichtlich, zumal auch der Wille zur Punktereduktion durch den Gesetzgeber mit der letzten Gesetzesänderung in §4 Abs. 6 StVG zum Tragen kommt und eben nicht aufgegeben wurde. Es ist derzeit offen, wie die Rechtsprechung diese Gesetzesänderung aufnehmen wird

 

Praxistipp

Jedenfalls sollte die Argumentation auf Seiten der Verteidigung dahin gehen, den gesetzgeberischen Willen für die gesamte Reform der Fahreignungsbewertung in den Blick zu nehmen, nicht nur hinsichtlich der Gesetzesänderung zum 5.12.2014. Dies gilt erst recht, wenn auch verfassungsrechtliche Zweifel aufgeworfen werden müssen, wenn eine "unechte Rückwirkung"[46] in Frage kommt.

Rechtsmittel sind lediglich gegen die Kostenentscheidung möglich.

[42] Ebenso Albrecht, Die Reform des Verkehrszentralregisters, DAR 2013, 443.
[43] So die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze, BR-Drucks 799/12 v...

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