Rz. 17

Nun ist in den seltensten Fällen die Kollisionsgeschwindigkeit über z.B. auslesbare Parameter (Steuergeräte in Pkw/Unfalldatenschreiber) bekannt, was bedeutet, dass Kolli­sions- bzw. Anstoßgeschwindigkeiten mit den Möglichkeiten der Mathematik/Physik zu berechnen sind.

Der bisherige Schwerpunkt lag auf der sog. "Precrash- oder Einlaufphase", in deren Verlauf z.B. eine Bremsung, eine starke Lenkbewegung oder aber auch eine Beschleunigung stattgefunden haben könnte. Dann, wenn es zum Kontakt zweier Fahrzeuge kommt oder z.B. dem Anprall gegen einen Baum, tritt die eigentliche Kollisions- oder Crashphase ein. An dieser Stelle besitzt das Fahrzeug die sog. Kollisionsgeschwindigkeit. Sie ist nur mit Kenntnis des nachkollisionären Bewegungsverhaltens zumindest eines der beiden am Unfall beteiligten Fahrzeuge beurteilbar, d.h. im Rahmen der Rückwärtsrechnung ist zunächst das Geschwindigkeitsausmaß zumindest eines Kfz (besser natürlich beider) zu berechnen, was in der Regel ähnlich abläuft, wie im letzten Kapitel dargestellt (z.B. durch nachkollisionäre Schleuderbewegungen mit anzusetzenden Verzögerungswerten). Die Phase nach dem Zusammenstoß nennt man "Postcrashphase". Sie dauert so lange an, bis das jeweilige Kfz zum Stillstand gelangt.

 

Rz. 18

Man beginnt damit grundsätzlich ganz am zeitlichen Ende des Ereignisses, also am Stillstandsort des oder der Kfz, und berechnet über etwaige Spurabzeichnungen, Stoßausgangswege, Fahrbahnbeschaffenheit etc. den Geschwindigkeitsanteil, den das Fahrzeug ab der objektivierbaren Kollisionsstelle noch zurücklegte. Diesen Geschwindigkeitsanteil nennt man dann "Stoßausgangsgeschwindigkeit".

 

Rz. 19

Ist dieses Stoßausgangsverhalten physikalisch eher einfach gelagert (z.B. Auffahrunfall mit 100 % Überdeckung), so ist es möglich, eine Geschwindigkeitsrückrechnung mit einem sog. eindimensionalen Stoßmodell durchzuführen. Hierbei sind etwaige Rotationsbewegungen (Fahrzeugverdrehungen), queraxiale Verlagerungen (z.B. beim Kreuzungsunfall) nicht bedeutsam.

 

Rz. 20

Nicht selten sind im Rahmen von gleichgerichteten Auffahrkollisionen (z.B. bei der sog. "HWS-Problematik") die genauen Fahrzeugendstellungen in Relation zum Kollisionsort unbekannt, was aber nicht dazu führt, dass eine Geschwindigkeitsbetrachtung nicht durchführbar ist. Gelingt es nämlich, über das Schadensausmaß für das jeweilige Fahrzeug auf die aufgenommenen Deformationsenergiekennwerte (Grad der Verformung) zu schließen, so ist der Geschwindigkeitsunterschied der Kfz zum Zeitpunkt der Kollision problemlos bestimmbar.

 

Rz. 21

Kommt es allerdings zu zweidimensionalen Kollisionen (Fahrzeuge fahren nicht in eine Richtung, sondern kreuzen ihre Fahrlinien), so kann dies zu sehr komplexen Stoßausgangsbewegungen führen, d.h. zu starken Fahrzeugrotationen, außermittigen Anstoßkonstellationen etc. In einem solchen Fall hilft eine eindimensionale Betrachtung nur wenig weiter, weswegen es dann angezeigt ist, vektorielle Geschwindigkeitsrückrechnungen durchzuführen, z.B. mittels Antriebs-Balance-Verfahren oder dem Rhomboid-Schnitt-Verfahren.

 

Rz. 22

Im Rahmen einer solchen Geschwindigkeitsrückrechnung werden dann für gewöhnlich die drei Erhaltungssätze der Physik verknüpft, nämlich derImpuls-, der Energie- und der Drehimpulserhaltungssatz, wobei letztgenannter vergleichsweise gröberen Abschätzungen unterliegt.

 

Rz. 23

Heutzutage bedient sich der Unfallanalytiker auch gerne sog. "Vorwärtssimulationsprogrammen", z.B. PC-Crash, das von Dr.-Steffan-Datentechnik entwickelt wurde. Es bietet sich an, stets eine Rückwärtsrechnung im klassischen Sinne vorzunehmen und auf Basis der dort gefundenen Ergebnisse z.B. mittels PC-Crash eine Vorwärtssimulation durchzuführen. Diese Programme besitzen den Vorteil einer besseren Visualisierung mit Hilfe derer sich feststellen lässt, ob angesichts der ermittelten Geschwindigkeitswerte die festgehaltenen Fahrzeugendstellungen auch tatsächlich erreicht werden.

 

Rz. 24

Kritisch gesehen werden hier Unfallanalysen, die sich ausschließlich auf PC-Crash-Simulationen stützen. Dort müssen nämlich Geschwindigkeitsvorgaben gemacht werden, anhand derer dann das Programm vorausberechnet, wie gut bzw. ob die späteren Fahrzeug-Endlagen erreicht werden. Solche Vorwärtssimulationen unterliegen einer enormen Fülle von Parametern, die bei gezielter Anwendung durchaus "gewünschte" Ergebnisse liefern können (hierzu an späterer Stelle noch mehr, siehe § 3 Rn 55).

 

Rz. 25

Wie das Ergebnis einer klassischen Rückwärtsrechnung mit dem Rhomboid-Schnitt-Verfahren aussehen kann, zeigt die Abb. 3.6.

Abb. 3.6

Die hier zu Aufsichtsmodellen stilisierten Kfz prallen in diesem Beispiel unter etwa 145° im Gegenverkehr gegeneinander. Die jeweiligen Einlaufrichtungen sind dort gestrichelt dargestellt und die nachkollisionären Stoßausgangsbewegungen (Vektoren) durch Impulspfeile. Letztere liefern über eine geometrische Konstruktion gewisse Lösungsfelder, die dann, wenn Energiekennwerte (Verformungsenergien pro Kfz) bekannt sind, durch ­einen sog. "Energierin...

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