Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 193
Der Erblasser kann durch Testament einem anderen, ohne ihn als Erben einzusetzen, einen Vermögensvorteil zuwenden (§ 1939 BGB). Durch das Vermächtnis wird für den bedachten Bedürftigen das Recht begründet, von dem Beschwerten (§ 2147 BGB) die Leistung des vermachten Gegenstandes zu fordern. Die Forderung des Vermächtnisnehmers kommt mit dem Erbfall zur Entstehung. Ist die Erfüllung in das Belieben des Beschwerten gestellt, so wird das Vermächtnis im Zweifel mit dem Tod fällig.
Rz. 194
Vermächtnisse haben im Sinne der Einkommensdefinition des Sozialhilferechtes nicht zwingend "Geldeswert". Sie können mit erheblichen Belastungen und Nachteilen einhergehen. Ist mit Ihnen aber ein geldwerter Vorteil verbunden, so sind sie sozialhilferechtlich relevant. So hat z.B. ein dingliches Wohnrechtsvermächtnis zwar keinen Marktwert, weil das Wohnungsrecht nicht auf einen anderen übertragbar ist; es hat aber die Qualität zur Deckung des sozialhilferelevanten Wohnbedarfs.
Rz. 195
Ob ein Vermächtnis sozialhilferechtlich Einkommen oder Vermögen darstellt, richtet sich eigentlich nach den Grundsätzen der modifizierten Zuflusstheorie. Danach wäre ein Vermächtnis, das vor dem Bedarfszeitraum/Antragszeitraum anfällt, im SGB XII grundsätzlich Vermögen. Fällt es im Bedarfszeitraum an, dann wäre es eigentlich Einkommen.
Rz. 196
In Abgrenzung zum Erbfall hat sich das BSG hinsichtlich der rechtlichen Qualifizierung von Forderungen, die der Hilfeempfänger mit dem Erbfall gegen den Nachlass erwirbt, aber weitergehend differenziert positioniert: Fließt ein Geldbetrag oder ein geldwerter Vorteil aus einem Vermächtnis real erst während des Bezuges von Sozialhilfe zu, dann soll es sich nach der Rechtsprechung des BSG unabhängig vom rechtlichen Entstehungszeitpunkt der Forderung um Einkommen handeln. Auf den Zeitpunkt des Erbfalles soll es nicht ankommen. Einen dem Einsatz entzogenen Freibetrag kann es danach nicht geben.
Das LSG Baden-Württemberg hat dagegen in einer Entscheidung zum Vermächtnis für einen arbeitslosen, alkoholkranken Sohn im SGB II unabhängig vom Zuflusszeitpunkt entschieden, dass ein Vermächtnis einen Vermögenswert darstelle, der – wenn er unter Testamentsvollstreckung stehe – nicht vom Sozialleistungsträger angreifbar sei. Diese Entscheidung ist aber im Kontext eines angeordneten Vorvermächtnisses/Nachvermächtnisses als Geld-, aber auch als Wohnungsrechtsvermächtnisses unter angeordneter Dauertestamentsvollstreckung (§§ 2209, 2211 BGB) zu sehen. Die Dauertestamentsvollstreckung führt dazu, dass das Vermächtnis keinen Marktwert hat und deshalb kein Einkommen "in Geldeswert" angenommen werden kann.
Rz. 197
Eine andere Position – nämlich wie beim Pflichtteilsanspruch – bezieht Geiger. Er differenziert danach, ob ein vor dem Bedarfszeitraum angefallenes Vermächtnis zeitnah verwertet werden kann. Wenn es sich im Ausgangspunkt um Vermögen handele (weil das Vermächtnis und der daraus abgeleitete Erfüllungsanspruch bereits vor dem Bedarfszeitraum bestand) und nicht zeitnah verwertbar sei, dann sei das Vermächtnis ohne normativen Rückbezug auf den Erbfall Einkommen. Das bedeutet, dass es nach seiner Meinung keinen Wechsel von Vermögen zu Einkommen gibt, wenn das Vermögen nach § 90 SGB XII zeitnah verwertbar ist. Nach dieser Ansicht muss man dann wohl die Schonvermögensprüfung des § 90 Abs. 2 und 3 SGB XII durchlaufen, um dann bei § 91 SGB XII anzugelangen, was zu einer darlehensweisen statt zu einer zuschussweisen Gewährung von Sozialhilfe führen würde. Seien daraus aber im Bedarfszeitraum Einkünfte geflossen oder sei das Vermächtnis als Vermögen nicht in angemessener Zeit realisierbar, dann sei es "ohne normativen Rückbezug auf den Erbfall" als Einkommen anzurechnen.
Wettlaufer vertritt inhaltlich die gleiche Auffassung wie beim Pflichtteilsanspruch.
Rz. 198
Zusammenfassung
Der Einkommenscharakter eines Zuflusses von Mitteln aus Schenkung und Erbfall kann im Einzelfall mangels Verfügungsbefugnis und damit mangels Marktwerts trotz eines Zuflusses im Bedarfszeitraum/Antragszeitraums verneint werden. Dann scheitert eine Berücksichtigung auch als nicht verwertbares Vermögen nach § 90 Abs. 1 SGB XII.
Ansonsten können sich Zuflüsse sowohl als gegenwärtig bedarfsdeckendes Einkommen als auch als Vermögen ("bereite" Mittel) anspruchshindernd oder anspruchsvernichtend für den Anspruch auf Sozialhilfe auswirken. Dann muss stets geprüft werden, ob es sozialhilferechtliche Schontatbestände gibt, die einen Einsatz/eine Verwertung der Mittel verhindern können ("normative" Schutzschirme).