Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 556
Fraglich ist, wie es zu beurteilen ist, wenn eine Ausschlagung unterlassen wurde.
Fallbeispiel 42: Die unterlassene Ausschlagung
Der Sohn S lebt seit Jahren von Grundsicherung und Eingliederungshilfe nach SGB XII. Seit 1.1.2021 erhält er die Eingliederungshilfe aus dem SGB IX und nur noch Grundsicherung aus dem SGB XII. Seine Mutter hatte daher ein Behindertentestament verfasst. Seine Schwester S wurde unbeschränkte Miterbin zu 70 %; S wurde Erbe zu 30 % Anteil. S wurde nicht befreiter Vorerbe; seine Schwester Nacherbin. Es bestand Dauertestamentsvollstreckung. Der Testamentsvollstrecker darf nach den Verwaltungsanordnungen im Sinne von § 2216 Abs. 2 BGB nur Zuwendungen machen, die die Lebensqualität des S verbessern, ihm unmittelbar zugutekommen und nicht zur Reduzierung von Sozialhilfeansprüchen führen.
Der Sozialhilfeträger des SGB XII ist der Auffassung, dem S sei eine Ausschlagung zuzumuten, weil bei einem Erbanteil von 300.000 EUR und einer aktuellen Verzinsung von 1 % aus dem Erbe lediglich 3.000 EUR p.a. an Erträgen pro anno generiert werden könnten. Damit sei das verbalisierte Ziel der Mutter nicht zu realisieren und es sei klar, dass die letztwillige Verfügung darauf abziele, dem Sozialhilfeträger Mittel zu entziehen. Es sei ihm zumutbar, die Erbschaft nach § 2306 BGB auszuschlagen und seinen Pflichtteil zu verlangen. Verweigere er das, werde zwar mangels "bereiter" Mittel weiter geleistet, aber
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es werde die Wirksamkeit des Testamentes angegriffen und Erbansprüche in gesetzlicher Höhe übergeleitet und hilfsweise |
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würden Kostenersatzansprüche geltend gemacht und mit Leistungsansprüchen aufgerechnet. |
Rz. 557
In der Literatur wird unter dem Stichwort "Implosion" des Behindertentestaments dessen Wirksamkeit diskutiert. Die Rechtsprechung zum Behindertentestament ist bisher immer davon ausgegangen, dass die Kombination des erbrechtlich möglichen Instrumentariums bis an seine immanenten Grenzen als Ausdruck der potenzierten Machtfülle des Erblassers angesehen muss. Das genutzte Instrumentarium dürfe lediglich nicht leerlaufen. Ein irgendwie gearteter Vorteil müsse beim Behinderten ankommen. Die zentrale Botschaft ist, dass alles, was das Erbrecht mit Blick auf die Nachlassbegehrlichkeiten anderer zulässt, grundsätzlich auch gegenüber dem Sozialleistungsträger gelten muss, es sei denn, sozialrechtliche Normen untersagten dies zwingend. Solche Normen gibt es ausdrücklich nicht.
Rz. 558
Fraglich ist deshalb gleichwohl, ob sich nicht eine andere Beurteilung ergibt, wenn nichts oder so gut wie nichts beim Erben ankommt. Der vernünftig gedachte Durchschnittserbe würde in den meisten Fällen sicherlich ausschlagen, damit ihm "unter dem Strich" mehr zugutekommt, als ihm bei der vorgesehenen und ausgeklügelten Erblasserlösung bleibt. Zivilrechtlich ist dies die Frage nach der Wirksamkeit der Erblasserlösung überhaupt. Bis heute gibt es keine Entscheidung, bei der ein Behindertentestament als nichtig angesehen wurde, weil nach Abzug von Testamentsvollstreckerkosten für den Bedürftigen schlicht nichts übrigbleibt, was seine Lebensqualität verbessern könnte.
Rz. 559
Falllösung Fallbeispiel 42:
Würde man den Schritt in Richtung dieser Frage überhaupt gehen, so wäre in Fallbeispiel 42 immer noch zu fragen, ob man das Testament ggf. auslegen kann. Danach richtet sich dann, was ggf. auf den Sozialhilfeträger übergeleitet wurde.
Hat das Testament Bestand, so ist fraglich, ob im Rahmen des Sozialhilferegresses Nachteile für den Sohn zu befürchten sind, wenn er nicht ausschlägt und damit nach § 2306 BGB seinen unbelasteten Pflichtteil i.H.v. 250.000 EUR generiert. Da der Pflichtteilsverzicht und auch die Ausschlagung eines behinderten Sozialhilfeempfängers nach der Rechtsprechung des BGH nicht sittenwidrig sind, wirft die Rechtsprechung dem S kein sozialwidriges Handeln vor, weil er "einen möglichen Anspruch auf einen nicht im Wege der Vorerbenstellung eingeschränkten Pflichtteil nicht realisiert hat."
Nähme man dagegen Sozialwidrigkeit an, dann bestünde ein weiteres Korrektiv ggf. darin, dass von der Heranziehung zum Kostenersatz abgesehen werden kann, soweit sie eine Härte bedeuten würde (§ 103 Abs. 1 S. 3 SGB XII). Kommt also tatsächlich einmal ein Kostenersatzanspruch in Betracht, muss immer noch geprüft werden, welche konkreten Auswirkungen das für den Ersatzpflichtigen – auch für seine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft – hat.
Als zusätzliches Problem ergibt sich im Fallbeispiel 42 das Wechselspiel zwischen den Leistungen nach SGB XII und denen der Eingliederungshilfe nach §§ 90 ff. SGB IX. Würde man die Ausschlagung im Hinblick auf Leistungen der Grundsicherung für sozialwidrig halten, so bleiben noch die Leistungen der Eingliederungshilfe, die aber Normen des Kostenersatzes wegen sozialwidrigen Verhaltens nicht kennt. Nach SGB IX könnte also eine Ausschlagung nicht verlangt werden. Wegen der Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung muss nach diesseitiger Ansicht für die vorstehende ...