Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 357
Ein Stiefkinddasein führt der Härtebegriff bei der Gewährung von Hilfen in speziellen Lebenslagen (z.B. bei Hilfe zur Pflege oder bei Eingliederungshilfe auch nach § 139 S. 3 SGB IX). Dabei geht es nach dem Gesetz vorrangig um den Fall, dass eine Härte anzunehmen ist, wenn eine angemessene Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung erheblich erschwert würden. Die Erfinder des Behindertentestamentes hatten sicherlich genau dieses Tatbestandsmerkmal vor Augen, als sie das Mittel der Verwaltungsanordnungen nach § 2216 Abs. 2 BGB nutzbar machten, um Herausgabeansprüche gegen den Testamentsvollstrecker abzuwehren. Damals ahnten sie allerdings noch nicht, dass das BSG eine Erbschaft während des Bedarfszeitraums als Einkommen und nicht als Vermögen ansehen würden, so dass bei der Herausgabe von Erträgen aus einer nicht befreiten Vorerbschaft oder einem Vorvermächtnis nach § 90 Abs. 3 SGB XII jedenfalls vor der Umwandlung der Erbschaftsmittel von Einkommen in Vermögen ein Schutz nicht zum Zuge kommen kann.
Rz. 358
Eine angemessene Lebensführung wird dann erschwert, wenn das Verlangen auf Einsatz des Vermögens zu einer ungerechtfertigten Verschlechterung der bisherigen Lebensverhältnisse des Hilfesuchenden, anderer Personen der Einsatzgemeinschaft oder der unterhaltsberechtigten Angehörigen führen würde. Was eine ungerechtfertigte Verschlechterung der bisherigen Lebensverhältnisse ist, ist nirgendwo definiert. Es gibt keine wirklich guten Beispiele aus der Rechtsprechung. Ist damit das bisher zu Hause umsorgte und behütete (erwachsene) behinderte Kind gemeint, das ohne Sozialhilfebezug von seinen Eltern jahrelang großzügig versorgt worden ist und nun nach dem Tod der Eltern auf "Heimniveau heruntergeschraubt wird"? Aber was ist dann mit den behinderten Menschen, die immer schon in Heimeinrichtungen gelebt haben?
Rz. 359
Ein tragfähiger Ansatz könnte die Auslegung des Begriffes der angemessenen Lebensführung im Lichte der Grundrechte, der Behindertenrechtskonvention und des Rehabilitationsrechtes sein. Zu § 84 SGB XII wurde bereits dargestellt, dass in der Literatur der Versuch unternommen wird, die unbestimmten Rechtsbegriffe, derer sich der Gesetzgeber bei den Schontatbeständen gerne bedient, "im Lichte der Grundrechte" auszufüllen. So sei z.B. die Menschenwürde – und damit auch die angemessene Lebensführung – tangiert, wenn Zuwendungen in Form von Geld oder Sachen zur Verbesserung der Pflege eines pflegebedürftigen Menschen angerechnet würden. Hier ist für die Zukunft noch viel Luft für intensive Auseinandersetzungen mit Sozialhilfeträgern.
Rz. 360
Aktuell wird § 90 Abs. 3 SGB XII i.V.m. § 139 SGB IX aber dringend benötigt, um ein Problem, das sich aus der Ausgliederung der sog. Eingliederungshilfe der §§ 53 ff. SGB XII in die Eingliederungshilfe der §§ 90 ff. SGB IX seit 1.1.2020 zu lösen. Der Gesetzgeber hat nämlich für die Eingliederungshilfemaßnahmen einen auf weit über 50.000 EUR angehobenen Vermögensschontatbestand in § 139 SGB IX geschaffen, es aber für den berechtigten Personenkreis des SGB XII beim Regelbetrag von 5.000 EUR belassen. Wenn man nicht – wie vorstehend bei § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII erörtert (siehe Rdn 335 ff.) – den Schonvermögensbetrag für die betroffene Personengruppe erhöht, kann der Nutzen, der aus der Erhöhung im SGB IX geschaffen werden sollte, nur durch den Härtefalltatbestand des § 90 Abs. 3 SGB XII "gerettet" werden. Dazu besteht bei den Sozialhilfeträgern aber keinerlei Tendenz.