Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 166
Ob eine "Erbschaft" Einkommen oder Vermögen ist, entscheidet sich nach der sog. modifizierten Zuflusstheorie, die den Erwerb der Erbenstellung als "normativen" Zufluss ansieht, der den tatsächlichen Zufluss als Differenzierungskriterium verdrängt. Bis zur Entscheidung des BSG vom 24.2.2011 hatte die Rechtsprechung keine Veranlassung gesehen, "abschließend die in Rechtsprechung und Schrifttum umstrittene Qualifizierung einer Erbschaft als Einkommen oder Vermögen abstrakt zu erörtern." Bis dahin hatte die Rechtsprechung mit unterschiedlichster Begründung und Differenzierung mal so, mal so entschieden. Alle Entscheidungen zum Behindertentestament – auch soweit die Sozialgerichtsbarkeit entschieden hat – gingen lange ohne Problematisierung davon aus, dass es sich bei einer Erbschaft um Vermögen und nicht um Einkommen handelt. Teile der Literatur standen der Zuordnung einer Erbschaft zum Einkommen kritisch gegenüber und bezeichnete die Wertung als Einkommen als Etikettenschwindel und "geradezu juristische Perversion".
Rz. 167
Grundsätzlich ist m.E. auch heute noch die Frage: "Ist eine "Erbschaft Einkommen oder Vermögen?"" – jedenfalls für das SGB XII – falsch, wenn man einmal davon absieht, dass man eine Erbschaft als Ganzes veräußern kann. Erbe zu sein bedeutet Gesamtrechtsnachfolger (§ 1922 BGB) zu sein. Eine Erbschaft ist die Gesamtheit der Rechtsverhältnisse des Erblassers. Es handelt sich um Rechtsverhältnisse, aus denen sich Aktiva und Passiva ergeben, um Rechtsverhältnisse, aus denen Einkommen fließt und um Rechtsverhältnisse an Vermögensgegenständen. Genauso gut sind Rechtsverhältnisse nicht-vermögensrechtlichen Inhalts denkbar. Eine Sondererbfolge unmittelbar in einzelne subjektive Rechte, also getrennt vom übrigen Nachlass, findet nur in wenigen Ausnahmefällen statt, die im Regelfall keine Rolle spielen. Eine Erbschaft ist also nicht identisch damit, Einkommen zu erlangen, und sie ist auch nicht identisch damit, Vermögen zu haben. Die Erbschaft ist nicht einmal identisch damit, dass "unter dem Strich" etwas Vermögenswertes zufließt. Der Erbe wird Rechtsinhaber und kann damit automatisch nicht nur Berechtigter, sondern auch Verpflichteter werden. Eine Erbschaft – präziser: ein Nachlass – kann in seiner Gesamtheit betrachtet überschuldet sein, wenn auch aus einzelnen Rechtsverhältnissen Ansprüche resultieren. Wäre eine Erbschaft per se Einkommen oder Vermögen, so wäre sie im Fall der Überschuldung wohl als negatives Einkommen oder Vermögen zu diskutieren und ein solches Ergebnis ist im Sozialrecht nicht zulässig.
Rz. 168
Das sieht z.T. auch die aus der Praxis stammende Kommentarliteratur, die danach differenziert, ob es sich um eine "Vollerbschaft" handelt oder nicht. Für eine befreite Vorerbschaft oder, wenn der Vorerbe mit Zustimmung des Nacherben verfügen könne, geht sie davon aus, dass er Vermögen erlange, wenn die Verfügungsbefugnis vor Begründung des Leistungszeitraum erlangt sei. Der nicht befreite Vorerbe kann nur über Nutzungen verfügen und erlangt damit unabhängig vom Erbfall im Leistungszeitraum nur Einkommen.
Eine "Erbschaft" an sich kann zu Zwecken der Berücksichtigung im Sozialleistungstatbestand überhaupt nicht klassifiziert werden, weil sie die Summe aller vererblichen Rechtsbeziehungen des Erblassers einschließlich der Verbindlichkeiten ist. Es lassen sich nur die daraus fließenden Rechtsverhältnisse und monetarisierten oder monetarisierbaren Zuflüsse klassifizieren. Für diese Argumentation spricht, dass beim "Sozialhilferegress" nach § 93 SGB XII auch nur auf Ansprüche abgestellt wird, die auf den Sozialleistungsträger übergehen. Demnach sind die aus einer Erbschaft "fließenden" Positionen jeweils einzeln als Einkommen oder Vermögen nach Maßgabe der Zuflusstheorie zu klassifizieren. Bestätigt wird diese Rechtsauffassung durch eine Entscheidung des LSG Bayern, die ausdrücklich bei einem Erbfall ausdrücklich zwischen dem Zufluss einer Immobilie als Vermögen nach § 12 SGB II und – wegen der Forderungsrechtsprechung – einer Steuerrückerstattung als Einkommen unterschieden hat.
Rz. 169
Letztlich sind die Würfel für die Behandlung von Zuflüssen aus einer Erbschaft durch die Rechtsprechung des BSG lange gefallen. Sie ist in der Praxis angekommen. Erste Einschränkungen ergeben sich allerdings schon wieder daraus, dass diese Rechtsprechung auf Erbschaften eingeschränkt wird, die nicht mit Beschwerungen oder Belastungen verbunden sind ("Vollerbschaft").
Einzelstimmen in der Literatur (zum insoweit vergleichbaren SGB II) bezeichnen den "normativen Erbfall-Zufluss" aber als eine "dogmatische Sackgasse" bzw. "dogmatische Totgeburt", die mit der gesetzlichen Konzeption der §§ 11 bis 11b SGB II a.F. ersichtlich nicht vereinbar sei. Sie kommen mit einem völlig anderen Ansatz in der Regel zur Wertung einer Erbschaft als E...