Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 363
Der Begriff der Härte ist nach diesseitiger Ansicht als ein Tatbestand zu verstehen, der Reibungsverluste auszugleichen hat. Solche Reibungsverluste entstehen insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber "normative Schutzschirme" an einer Stelle im Gesetz geschaffen hat und diese Schutzschirme dann an einer anderen Stelle nicht mehr wirken, z.B. weil der Gesetzgeber das Problem übersehen hat, nicht pauschal regeln wollte oder wenn Rechtsprechung "ein Loch reißt" in das gesetzliche Schutzsystem oder gleiche Sachverhalte ungleich behandelt.
Der nachfolgende Fall hat viele unterschiedliche Aspekte, die man unter Härtefallaspekten einbringen und diskutieren kann.
Rz. 364
Fallbeispiel 31: Das fehlgeschlagene Behindertentestament
Die Ehegatten A und B hatten ein notarielles Testament errichtet, mit dem sie ihren Nachlass für ihren Sohn erhalten und den "Zugriff" des Sozialhilfeträgers verhindern wollten. Auf den ersten Todesfall hatten sie sich als Alleinerben eingesetzt und den in einer WG für behinderte Menschen lebenden Sohn S als Schlussvorerben unter Anordnung einer Nacherbeneinsetzung mit Dauertestamentsvollstreckung und Verwaltungsanordnungen nach § 2216 Abs. 2 BGB. Mit einer Pflichtteilsstrafklausel versuchten sie den Sohn vom Nachlass des Erstversterbenden fernzuhalten. Das Sozialamt kündigte die Einstellung der Grundsicherungsleistungen (§§ 41 ff. SGB XII) an, als bekannt wurde, dass der Pflichtteilsanspruch nach dem Erstversterbenden bei rd. 50.000 EUR lag. S macht geltend, der Betrag des Pflichtteilsanspruchs liege unterhalb des Vermögensschonbetrages von § 139 SGB XI. Dieser müsse auch für die Grundsicherungsleistungen gelten, da die vom Gesetzgeber vorgesehene Verbesserung seiner Lebenssituation sonst leerlaufe.
Rz. 365
Zitat
"Als bewusstes Instrument des Behindertentestaments ist die Anordnung einer Pflichtteilsstrafklausel ungeeignet. Sie verhindert die Überleitung und Durchsetzung des Pflichtteilsanspruchs des sozialhilfebedürftigen Kindes nach dem Tod des erstversterbenden Elternteils durch den Träger der Sozialhilfe nicht."
Für die Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe nach §§ 90 ff. SGB XII ist ein erbrechtlicher Zufluss vor oder im Bedarfszeitraum nach den §§ 135 ff. SGB IX unschädlich. Der Zufluss ist – es sei denn, er wäre mit regelhaften Einkünften verbunden – als Barvermögen oder sonstiger Geldwert bis zu einem Betrag von 150 Prozent der jährlichen Bezugsgröße nach § 139 SGB IX i.V.m § 18 Abs. 1 SGB IV geschont. Pflichtteils- oder sonstige Ansprüche bis zu einer Höhe von 59.220 EUR (West Stand 2021) und 56.070 EUR (Ost Stand 2021) sind also nach § 139 SGB IX normativ geschont, nicht aber nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII für die notwendige Grundsicherung (§§ 41 ff. SGB XII), wenn der Schonbetrag von 5.000 EUR nicht nach § 2 DVO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII entsprechend angepasst wird. Dann bleibt nur noch die Verschonung wegen Härte nach § 90 Abs. 3 SGB XII, sobald der Zufluss die Bewertung als Einkommen nach § 82 Abs. 7 SGB XII hinter sich gebracht und eine Umwandlung des Restbetrages in Vermögen nach § 90 SGB XII stattgefunden hat.
Rz. 366
Ansatzpunkt ist die Frage, ob die angemessene Lebensführung erschwert wird bzw. zu welchem Zweck das Vermögen dienen sollte. Die angemessene Lebensführung wird dann erschwert, wenn das Verlangen auf Einsatz des Vermögens zu einer ungerechtfertigten Verschlechterung der bisherigen Lebensverhältnisse des Hilfesuchenden führt. Fraglich ist, ob dazu auch eine Lebensführung oberhalb des Sozialhilfeniveaus gehört, den die Eltern ihrem behinderten Kind zu ihren Lebzeiten durch nicht zur Bedarfsdeckung geeignete Mittel garantiert haben, oder ob man nicht auch berücksichtigen kann, dass die Sicherung der angemessenen Lebensführung auf jeden Fall der Zweck eines Behindertentestamentes ist.
Rz. 367
Falllösung Fallbeispiel 31:
Vorliegend gibt es aber gerade keinen zweckgerichteten Zufluss aus einem Behindertentestament, sondern einen Zufluss aus einer Fehlgestaltung eines Testaments, das einen Pflichtteilsanspruch produziert hat, den der überlebende Alleinerbe an den Sohn S auszuzahlen hat. Durch diese Fehlgestaltung verliert der überlebende Ehegatte einen Teil seines Nachlasses, was ihn ggf. gefährdet. Der Sohn S verliert einen Teil des geschützten Nachlasses, aus dem nicht einsatzpflichtige Erträge hätten generiert werden sollen. Der Schadensersatzprozess gegen den Notar verändert an dieser Schädigungssituation allenfalls teilweise etwas, nämlich soweit die Mutter einen Schaden geltend macht und realisiert. Ein Anspruch des Sohnes selbst ist sofort wieder anzurechnendes Einkommen im Sinne des § 82 SGB XII. Letztlich müsste S den Pflichtteilsanspruch einerseits einsetzen und andererseits auch der Teil, der sich bei ihm als Schaden manifestiert. Insoweit müsste zweimal eingesetzt werden.
Rz. 368
Würde man aus dieser besonderen Fallkonstellation keinen Härtefalltatbestand generieren können, so bleibt doch immer noch einmal die oben bereits bei § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB X...