Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 627
Zu den für die Wertberechnung erheblichen Nachlassverbindlichkeiten gehören zunächst die unmittelbar vom Erblasser herrührenden Schulden (§ 1967 BGB Erblasserverbindlichkeiten).
Rz. 628
Fallbeispiel 48: Die lebzeitige Pflegeverpflichtung
A ist Alleinerbe nach seiner Mutter, in deren Nachlass sich lediglich eine Immobilie befindet, die sie bis zuletzt bewohnt hat. Er macht geltend, seine Ehefrau habe die Mutter, die Sozialhilfeleistungen wegen fehlender liquider Mittel erhalten habe, 35 Stunden pro Woche gepflegt im Hinblick darauf, dass das von ihr bewohnte und deshalb sozialhilferechtlich geschonte Haus ihm und seiner Familie später zum Wohnen dienen sollte. Der "Rohnachlass" vermindere sich deshalb um das ihr geschuldete Entgelt für Pflege, hilfsweise sei eine besondere Härte anzunehmen.
Eine solche Verbindlichkeit kann sich z.B. daraus ergeben, dass das Entgelt für eine vereinbarte Dienstleistung noch nicht bezahlt wurde und seine Fälligkeit auf den Tod aufgeschoben wurde.
Rz. 629
Falllösung Fallbeispiel 48:
Ein Entgelt für geleistete Pflege setzt zum einen eine wirksame Vereinbarung über entgeltliche Pflege voraus. Innerhalb des Familienverbandes wird dem häufig entgegengehalten, dass die Pflege von Eltern durch ihre Kinder eine Erfüllung gesetzlicher (Unterhalts-)pflichten darstelle, zumindest handele es sich um eine sittliche Verpflichtung von Kindern (§ 1618a BGB) im Solidarsystem "Familie". Dem stehe die Vereinbarung eines Entgeltes für Pflege entgegen.
Das ist unzutreffend. Der Bedarf an Pflege ist ein unterhaltsrechtlicher (Mehr-)Bedarf. Nur bedürftige Eltern haben gegenüber leistungsfähigen Kindern einen Anspruch darauf, dass ihr ungedeckter Bedarf an Pflege unterhaltsrechtlich gedeckt wird. Ungedeckter Elternunterhalts(pflege)bedarf ist nach § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB grundsätzlich in der Form von Barunterhalt zu decken. Einen unterhaltsrechtlichen Anspruch auf persönliche Betreuung – so der BGH in anderem Kontext – haben nicht einmal minderjährige Kinder, Volljährige dementsprechend erst recht nicht. Die Rechtsprechung hat im Rahmen des Elternunterhaltes bis heute auch niemals nur ansatzweise eine Naturalunterhaltsverpflichtung im Rahmen von §§ 1603, 1612 BGB für Kinder diskutiert. Auch aus § 1619 BGB und § 1618a BGB kann keine Pflicht zum Naturalunterhalt auf Pflege konstruiert werden, die es in §§ 1603, 1612 BGB so ausdrücklich nicht gibt.
Rz. 630
Außerdem müssen auch nur leistungsfähige Kinder bedürftigen Eltern Barunterhalt leisten. Die Rechtsprechung verneint deshalb zu Recht ein familienrechtliches Abschlussverbot für entlohnende Dienstverträge. Der Annahme eines Dienstvertrages steht auch nicht entgegen, dass die Vergütung statt in laufenden Zahlungen in einer einmaligen auf den Tod aufgeschobenen entgeltlichen Zuwendung besteht. Eine entgeltliche Pflegevereinbarung, die zur Minderung des Nachlasses führt, ist daher grundsätzlich möglich.
Die alles entscheidende Frage ist aber, ob zwischen dem Empfänger und dem Leistenden eine tatsächliche Willenseinigung über die Entgeltlichkeit der Pflege erzielt wird. Eine solche Einigung ist stillschweigend möglich. Ggf. bestehen auch ohne ausdrückliche Vereinbarungen Reparaturmöglichkeiten, um eine Gegenleistung für die Pflege beanspruchen zu können, und zwar ggf. über das Rechtsinstitut der fehlgeschlagenen Vergütungsvereinbarung und den Bereicherungsausgleich wegen Zweckverfehlung. § 612 BGB ersetzt aber nicht die Einigung über die Entgeltlichkeit an sich, sondern setzt sie voraus. Die Einigung über die Entgeltlichkeit ist auch beim Bereicherungsausgleich wegen Zweckverfehlung nicht entbehrlich. Werden also z.B. im Hinblick auf eine erhoffte Erbeinsetzung Pflegeleistungen erbracht und ist in Kenntnis dieser Erwartung eine Erbeinsetzung nicht erfolgt oder widerrufen worden, dann kann dies einen Bereicherungsanspruch begründen, der sich als Nachlassverbindlichkeit darstellt. Das bloße Erbringen von Pflegeleistungen lässt nach der Rechtsprechung allerdings keine Schlussfolgerung auf einen konkludent geschlossenen entgeltlichen Vertrag zu. Stets bedarf es einer irgendwie gearteten Einigung über die Entgeltlichkeit. Vgl. dazu auch Fallbeispiel 105: Vorweggenommene Erbfolge und die Pflege des Vaters (siehe § 12 Rdn 41).
Im Beispielsfall hat die Rechtsprechung gegen eine entgeltliche Pflegeleistung entschieden und auch keine Reparaturmöglichkeiten zugelassen.
Rz. 631
In solchen Fällen bleibt nur der Weg in den Härtetatbestand des § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII. Der Sohn hätte weder in eigener Person noch durch seine Ehefrau eine persönliche Pflege geschuldet. Wäre er leistungsfähig gewesen, wäre allenfalls ein Barunterhaltsanspruch zu diskutieren gewesen, den der Sozialhilfeträger nach § 94 SGB XII aber wohl nicht feststellen konnte. Die Kontrolle anhand dieses Alternativsachverhaltes zeigt, dass die Annahme einer besonderen Härte gerechtfertigt sein kann. Obwohl der Sozialhilfeträger durch die Pflege der Schwiegertochter in erheb...