Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 571
Die rechtserhebliche Handlung muss nach einer Ansicht in objektiver Hinsicht als leichtfertiges oder unlauteres Verhalten zu qualifizieren sein. Nach anderer Ansicht wird ein nicht nachvollziehbarer Grund für die Vermögensminderung verlangt und wieder andere aus der zumeist älteren Literatur vertreten die Ansicht, dass nur kognitive und voluntative Elemente erfasst seien, nicht aber eine moralische Wertung getroffen werden solle.
Rz. 572
Überzeugend i.S. einer schlüssigen und in sich stimmigen Argumentation ist, im Wege einer Negativevidenz jedenfalls jedes Verhalten des bedürftigen Sozialleistungsbeziehers auszusondern, das im Rahmen der persönlichen Lebensplanung als sinnvolle und vernünftige Lebensentscheidung zu werten ist.
Im Übrigen wird subjektiv weiter vorausgesetzt, dass der Leistungsbezug bewusst erstrebt und bezweckt worden sein muss. Die Kenntnis und das Wissen, dass die fragliche Handlung den Leistungstatbestand auslösen wird, reichen allein nicht aus. Sie müssen zwar auch nicht das alleinige Ziel der fraglichen Handlung gewesen sein, der Eintritt oder die Aufrechterhaltung des Leistungstatbestandes müssen jedenfalls aber das Leitmotiv des Handelns gewesen sein.
Rz. 573
Das BSG hat ausgeführt, dass insbesondere, wenn dem Leistungsberechtigten aus vorangegangenen Bezugszeiträumen durch den Träger der Grundsicherung bekannt sei oder bekannt sein müsse, in welcher Weise der Einsatz einer einmaligen Einnahme von ihm erwartet werde, bei entgegenstehendem Verhalten ein Kostenersatzanspruch entstehen könne. Damit werde das Bedürfnis der Allgemeinheit gesichert, Steuermittel nicht dort aufzuwenden, wo die Abwendung von Hilfebedürftigkeit dem Hilfebedürftigen auch aus eigener Kraft möglich gewesen wäre und die Notlage also schuldhaft herbeigeführt werde. Dieser Gedanke wird sich auf § 26 SGB XII übertragen lassen.
Rz. 574
Fallbeispiel 43: Die verschenkten Erbschaftsmittel
Die A bezog Leistungen nach dem SGB XII. Dann floss ihr Barvermögen in Höhe von 93.000 EUR aus einer Erbschaft nach ihrem Bruder zu, welches sie sogleich an ihre Tochter weiterverschenkte, weil sie von dem Bruder in ihrer Kindheit missbraucht worden sei und von ihm nicht erben wolle. Ihre Tochter gab die Mittel aus und verweigert eine Rückgabe der Mittel.
Rz. 575
Grundsätzlich ist das Verschenken oder Mindern eines Zuflusses von Mittel bis auf das Schonvermögen ein Fall des § 26 SGB XII. Ein solches Verhalten dürfte auch als ein leichtfertiges oder unlauteres Verhalten qualifiziert werden können. Entscheidend ist aber auf die Motive abzustellen. Wenn Einkommen oder Vermögen vermindert wurde und der Betroffene damit altruistische Motive verfolgt, selbst wenn er sich über den Eintritt der Hilfebedürftigkeit durch die Handlung im Klaren gewesen ist, verneint die Literatur den direkten Vorsatz.
Rz. 576
Falllösung Fallbeispiel 43:
Die Rechtsprechung hat diesen Fall wie folgt entschieden:
1. Ein Hilfebedürftiger kann nicht auf einen Erbanspruch verwiesen werden, wenn ihm die Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen.
2. Ein Verweis auf einen Schenkungsrückforderungsanspruch kann nicht erfolgen, wenn eine Verwirklichung oder Durchsetzung des Anspruchs kurzfristig nicht möglich ist (Prinzip der "bereiten" Mittel und Wiederherstellung des Nachrangs durch Überleitung).
3. Die Sozialhilfe darf auch nicht auf das bis zum Lebensunterhalt Unerlässliche eingeschränkt werden. § 26 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII ist nicht bereits dann einschlägig, wenn der Leistungsempfänger sicher weiß, dass er infolge der Einkommens- und Vermögensminderung hilfebedürftig werden wird. Andererseits genügt es, wenn sich der Leistungsempfänger bei der Einkommens- und Vermögensminderung maßgeblich davon hat leiten lassen, auf diese Weise die Voraussetzungen für die staatliche Hilfeleistung zu schaffen. Das ist nicht der Fall, wenn die A wie hier aufgrund eines in der Vergangenheit erlittenen sexuellen Missbrauches durch ihren Bruder keine Zahlungen aus der Erbschaft erhalten wollte (Begrenzung der Selbsthilfeverpflichtung aus Zumutbarkeitsgesichtspunkten).
Rz. 577
Im vorliegenden Fall hätte sicherlich auch noch eine Kontrollüberlegung zum richtigen Ergebnis verholfen. Wenn man annimmt, dass man grundsätzlich auf eine Erbschaft verzichten oder sie ausschlagen kann, dann macht es in der rechtlichen Wertung kein Unterscheid, wenn an denjenigen verschenkt wird, der ansonsten der Begünstigte der Ausschlagung geworden wäre.
Die Literatur hat sich der vorstehenden Entscheidung angeschlossen.