Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 60
Ein Beispiel für einen vom tatsächlichen Zufluss abweichenden "normativen" Zufluss ist die zeitliche Vorverlegung des Zuflusses aufgrund einer rechtlichen Wertung. Das betrifft die rechtliche Qualifizierung einer Erbschaft (§ 1922 BGB) als Einkommen oder Vermögen (in der Literatur "Erbfall-Zufluss" genannt). Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um eine aus dem Erbfall resultierende Alleinerben- oder Miterbenstellung handelt.
Hinweis
Die "Erbfall-Zufluss"-Rechtsprechung beginnt mit der Entscheidung des BSG v. 24.2.2011 und bezieht sich auf Fälle zu § 11 SGB II a.F. bis zum 31.7.2016. Entscheidungen aus der Zeit davor sind nur noch bedingt heranziehbar. Aus dem SGB XII stammt nur eine geringe Anzahl von Entscheidungen.
Rz. 61
Die Rechtsprechung des SGB II knüpft bei einer Erbschaft, auch wenn damit noch keine Bedarfsdeckung möglich ist, als Zuflusszeitpunkt an den Tag des Erbfalls an, um zwischen der Rechtsqualität als Einkommen und der Rechtsqualität als Vermögen zu unterscheiden:
Zitat
"Ein solcher rechtlich maßgeblicher anderer Zufluss ergibt sich bei einem Erbfall aus § 1922 Abs. 1 BGB, nach dem mit dem Tode einer Person deren Vermögen als Ganzes auf den oder die Erben übergeht (Gesamtrechtsnachfolge). Bereits ab diesem Zeitpunkt kann ein Erbe aufgrund seiner durch den Erbfall erlangten rechtlichen Position über seinen Anteil am Nachlass verfügen. Diese Besonderheiten der Gesamtrechtsnachfolge im BGB sind auch für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen nach dem SGB II entscheidend. Ob der Erbe schon zum Zeitpunkt des Erbfalls tatsächlich – zumindest bedarfsmindernde – Vorteile aus seiner Erbenstellung ziehen kann, ist dabei zunächst ohne Belang. § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II setzt nicht voraus, dass der Einnahme bereits ein "Marktwert" zukommt. Entscheidend für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen ist daher, ob der Erbfall jedenfalls vor der (ersten) Antragstellung eingetreten ist."
Rz. 62
Liegt der Erbfall vor der ersten Antragstellung, handelt es sich also um Vermögen. Der Zufluss eines Geldbetrages aus einem Erbe vor Antragstellung stellt sich dann als "versilbern" bereits vorhandenen Vermögens dar und ist somit weiterhin als Vermögen zu qualifizieren.“
Anders dagegen der Zufluss aus einem Erbfall, der im Bedarfszeitraum/Antragszeitraum eingetreten ist. Der Zufluss erfolgt "normativ" nach der Rechtsprechung zum SGB II (Rechtslage vor dem 1.8.2016) und ist nach der Rechtsprechung des BSG sozialhilferechtlich Einkommen. Sie unterliegt dann im ersten Prüfungsschritt nicht den Vermögenstatbeständen der § 90 SGB XII, sondern der weitest möglichen Einsatzpflicht als Einkommen (§§ 82 ff. SGB XII).
Hinweis
Bei einer die Beendigung der Hilfebedürftigkeit für mindestens einen Monat bewirkenden Änderung ist es allerdings nicht mehr gerechtfertigt ist, die zuvor berücksichtigte einmalige Einnahme nach erneuter Antragstellung weiterhin als Einkommen leistungsmindernd anzusetzen. In diesem Fall handelt es sich um einen Zufluss vor erneuter – vergleichbar der ersten – Antragstellung und dem Wiedereintritt von Hilfebedürftigkeit. Dann sind gegebenenfalls noch vorhandene Wertzuwächse Vermögen.
Obwohl die höchstrichterliche Rechtsprechung dies für das SGB XII noch nicht abschließend entschieden hat, haben die Kommentarliteratur und einzelne Untergerichte diese Rechtsprechung bisher auch schon auf das SGB XII entsprechend angewendet. Die Rechtsqualität von Zuflüssen aus einer Erbschaft als Einkommen oder Vermögen wird daher auch im SGB XII nach Maßgabe des Zeitpunktes des Erbfalls bestimmt.
Rz. 63
Bei einem Vermächtnis- bzw. Pflichtteilsanspruch nimmt die Rechtsprechung dagegen keine Verlegung des Zuflusszeitpunktes auf den Tag des Todes des Erblassers vor. Für die Unterscheidung zwischen Einkommen und Vermögen bei einer bloßen Forderung sei grundsätzlich auf den Geldzufluss und nicht auf die zuvor bestehende Rechtsposition abzustellen. Es handele sich lediglich um gewöhnliche Geldforderungen gegen den Erben, bei denen Zufluss und das Bereitsein der Mittel in der Regel auf einen Zeitpunkt fielen.
Diese Abgrenzung von Einkommen und Vermögen nach dem Eintritt des Erbfalls ist nicht nur schwierig zu verstehen; sie trägt auch in dieser Allgemeingültigkeit, die sie suggeriert, nicht. In den klassischen Behinderten- und Bedürftigentestamenten gilt die Prämisse der freien Verfügbarkeit über die Erbschaft z.B. nicht, weil deren wesentlicher Baustein die Dauertestamentsvollstreckung ist, die dem Erben die Verfügungsbefugnis dauerhaft nach §§ 2209, 2211 BGB entzieht. Jede Verfügung des Erben ist also sowohl gegenüber dem Testamentsvollstrecker als auch gegenüber jedem Dritten absolut unwirksam. Ein Erbschaftsverkauf (§ 2371 BGB) würde daran scheitern. Deshalb entzieht sich eine solche Erbschaft dem Grunde nach dem Einkommensbegriff in Geldeswert und der normativen Zuflussbestimmung. Man muss sie weder als einsatzbares Einkommen noch als verwertbares Vermögen behandeln und k...