Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 506
Fallbeispiel 38: Was soll das Kind mit dem Erbe II? – Ausschlagen?
M hat einen behinderten Sohn S, den er und seine Frau lebenslang zu Hause im gemeinsamen Miteigentum eines Hauses versorgt haben. Als M seinen Sohn nach dem Tod seiner Frau nicht mehr selbst versorgen kann, will er für die Heimunterbringung einen Antrag auf Sozialhilfe stellen und erfährt, dass sein Sohn wegen der Verfolgung seiner erbrechtlichen Ansprüche und der Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft einen Betreuer benötigt. Aufgeklärt über den Erbanspruch seines Sohnes fragt der Vater an, ob man die Erbschaft denn nicht ausschlagen könne. Er würde seinen Sohn wie bisher auch großzügig unterstützen und davon habe dieser doch mehr, als wenn alles für die Heimunterbringung verbraucht werde.
aa) Grundsätzliches
Rz. 507
Durch die Ausschlagung nach § 1942 BGB wird die Erbenstellung beseitigt und dem Sozialleistungsträger wird der Zugriff auf die Erbschaft verwehrt. Das ist ein Verzicht auf eine Erwerbsquelle, die nach der Entscheidung des BGH zum Pflichtteilsverzicht nichts an der Verpflichtung ändert, vorhandenes Vermögen und vorhandene Einkünfte im sozialhilferechtlichen Leitungsverhältnis einzusetzen.
Die Möglichkeit der Ausschlagung für einen behinderten Sozialhilfebezieher wurde bisher heftig diskutiert. Auch hier gilt, dass die Diskussion bisher für SGB XII-Leistungen geführt wurde, nicht aber für die neuen Leistungen des Eingliederungshilferechts §§ 90 ff. SGB IX.
Rz. 508
Für die Zulässigkeit der Ausschlagung durch einen Sozialhilfebezieher hat sich bereits 1991 das früher zuständige BVerwG eindeutig geäußert hat:
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Eine Erbausschlagung kann nicht mit einem Unterhaltsverzicht, der zur Sozialhilfebedürftigkeit führt, gleichgestellt werden. Das Erbe hat keine Unterhaltsfunktion. |
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Es ist nicht Aufgabe des Erbrechts, eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialhilfe zu verhindern. |
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Eventuellen Missbräuchen bei der Herstellung oder Aufrechterhaltung des Zustands der Sozialhilfebedürftigkeit ist ggf. mit dem Instrumentarium des Sozialhilferechts zu begegnen. |
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Das Recht des (Erbes-)Erben, die Erbschaft (des Erben) auszuschlagen, wird durch § 92c BSHG (jetzt § 102 SGB XII) nicht eingeschränkt. Es begegnet keinen Zweifeln, dass die Anwendung des § 138 BGB bei der Ausschlagung abzulehnen ist. Es kommt nicht auf die Motive an, weshalb der Berufene die Erbschaft annimmt oder ausschlägt. Auch nach öffentlichem Recht kann dem Einzelnen eine Erbenstellung nicht aufgenötigt werden. |
Rz. 509
Mit der Rechtsprechung des BGH zur Rechtmäßigkeit des (präventiven) Pflichtteilsverzichts 20 Jahre später – in Abgrenzung zum Erlass einer angefallenen Pflichtteilsforderung – wird davon auch die sozialhilferechtliche Rechtsprechung ausgehen müssen. Der BGH hat dazu ausgeführt:
Zitat
"Es gibt keine Pflicht zu erben oder sonst etwas aus einem Nachlass anzunehmen. Wenigstens muss den Betreffenden das Recht zur Ausschlagung zustehen, um sich gegen den vom Gesetz vorgesehenen Vonselbst-Erwerb (§§ 1922, 1942 BGB) wehren zu können. Die grundsätzliche Ablehnungsmöglichkeit gegenüber Zuwendungen ist notwendiger Widerpart, der einen unmittelbar wirksamen Vermögensübergang ohne eigenes Zutun erst rechtfertigt."
Aus der Zulässigkeit des Pflichtteilsverzichts unter Lebenden ergibt sich nach BGH also die Argumentation für die Zulässigkeit der Ausschlagung der Erbschaft nach § 1942 BGB und das Recht des Bedürftigen, nicht Erbe sein zu wollen. Es gibt grundsätzlich keinen Zwang zur Annahme einer Erbschaft im Gläubigerinteresse. Die Nichtigkeit der Ausschlagung nach § 138 BGB hätte zwingend die Annahme der Erbschaft zur Folge und § 138 BGB bekäme damit eine die Privatautonomie begrenzende Funktion, die in ihm nicht angelegt ist.
Rz. 510
Bei Ausschlagung ist also von einem offensichtlichen Nichtbestehen eines Erbanspruches auszugehen. § 517 BGB bestimmt ausdrücklich, dass in der Ausschlagung keine Schenkung liegt.
Hinweis
In den Fällen von §§ 2306, 2307, 1371 Abs. 3 BGB treten bei Ausschlagung Pflichtteilsansprüche an die Stelle des ursprünglichen Rechts: Diese können übergeleitet werden.
Die untergerichtliche Rechtsprechung und die h.M. in der Literatur folgen dieser Auffassung. Das unbegrenzte und unterschiedslose Recht zur Ausschlagung wird zwar z.T. von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung bezweifelt. Es ist – wie beim Pflichtteilsverzicht auch – noch nicht eindeutig entschieden, ob die Entscheidung des BGH auch für nicht behinderte Menschen gilt. Es dürfte aber davon auszugehen sein, dass dies in der für die Durchsetzung von Erbansprüchen zuständigen Zivilgerichtsbarkeit keine Chance hat.