Rz. 432

In der Praxis häufen sich die Fälle, bei denen Ansprüche übergeleitet werden, die bestünden, wenn der Hilfesuchende eine nichtige Vereinbarung getroffen, nicht ein Erbe ausgeschlagen, nicht auf Rechte oder Ansprüche aus oder an einem Nachlass verzichtet oder solche erlassen hätte. Das ist grundsätzlich möglich, und das gilt selbst dann, wenn die Rechtslage mutmaßlich höchstrichterlich geklärt zu sein scheint.

 

Rz. 433

So hat der BGH z.B. entschieden, dass nach einem Pflichtteilsverzicht durch einen Sozialhilfebedürftigen mit Behinderung eine Überleitung nach § 93 SGB XII ins Leere gehe, weil der Pflichtteilsanspruch untergegangenen sei. Die Verneinung der Sittenwidrigkeit von Pflichtteilsverzichten behinderter Sozialleistungsbezieher sei bereits in der Rechtsprechung des BGH zum Behindertentestament dargelegt:

Grundsätzlich könnten alle im Erbrecht vom Gesetz bereitgestellten Gestaltungsinstrumente ausgeschöpft werden.
Bei nachteiligen Wirkungen zu Lasten der Allgemeinheit sei nicht die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts durch besondere Gründe im Einzelfall zu rechtfertigen, sondern positiv festzustellen und zu begründen, gegen welche übergeordneten Wertungen das Rechtsgeschäft verstoße und weshalb seine Wirksamkeit nicht hingenommen werden kann.
Für Dritte mittelbar durch das Rechtsgeschäft verursachte nachteilige Wirkungen (Reflexe) seien von diesem grundsätzlich hinzunehmen und berührten die Wirksamkeit des Geschäftes im Regelfalle nicht.
Es bedürfe gesetzlicher Regelungen, wenn Nachteile Dritter im konkreten Fall bestätigt oder ausgeglichen werden sollten.
Der Erbrechtsgarantie des Art. 14 GG sei auch ein Gegenstück im Sinne einer "negativen Erbfreiheit" zu entnehmen. Es gebe keine Pflicht zu erben oder sonst etwas aus einem Nachlass anzunehmen.
Es gebe für die Tragung der besonderen Lasten, die mit der Erziehung und Betreuung behinderter Kinder verbunden seien, ein gesetzliches System im Sozialrecht, das den Zugriff der Eltern als Unterhaltsschuldner weitgehend ausschließe und der Allgemeinheit aufbürde.[730]
Der erbrechtliche Verzicht unter Lebenden[731] auf den noch nicht angefallenen Pflichtteilsanspruch durch Pflichtteilsverzicht nach § 2346 Abs. 2 BGB vor Überleitung sei dem Grunde nach zu akzeptieren.[732]

Die untergerichtliche Rechtsprechung erweitert diese Argumentation sogar auf den Erlass einer bereits entstandenen Pflichtteilsforderung.[733]

 

Rz. 434

Das LSG Bayern erregte deshalb erhebliches Aufsehen, als es nach Ausschlagung eines Leistungsbeziehers mit Behinderung den Anspruch auf Herausgabe des gesetzlichen Erbteils von 1/6 dem Grunde nach gegen die Erbengemeinschaft auf sich überleitete und damit begründete, die Erbausschlagung sei sittenwidrig, da sie zu Lasten der Allgemeinheit gehe.

So hat das LSG Bayern trotz der Pflichtteilsverzichtsentscheidung des BGH, in der auch zur Zulässigkeit von Ausschlagungen Stellung genommen wurde, die Überleitungsvoraussetzungen bejaht:

Zitat

"Eine klare Rechtslage, die offensichtlich die Wirksamkeit einer Ausschlagung einer Erbschaft zulasten des Sozialhilfeträgers unbesehen bejaht, kann unter Berufung auf die angeführte Entscheidung des BGH nicht angenommen werden. … Im Übrigen existieren auch Zweifel an der genannten Rechtsprechung, soweit keine Ausnahmen gemacht werden. … Es ist nicht völlig ausgeschlossen und nicht offensichtlich erkennbar sinnlos, dass Zivilgerichte für die Fallgestaltung einer Ausschlagung zu einem anderen Ergebnis gelangen als in dem zum rechtsgeschäftlichen Verzicht auf einen Pflichtteil entschiedenen Fall."[734]

 

Rz. 435

In der anwaltlichen und notariellen Praxis führt dies zu deutlicher Verunsicherung. Zum Teil spricht man bei der vom BGH als Rechtsgrundlage herangezogenen negativen Erbfreiheit von einer "kühnen Neuerung".[735] Der Inhalt der Entscheidung wird auf jeden Fall unterschiedlich interpretiert:[736]

Zum einen wird die Wirksamkeit eines Totalverzichtes unterschiedlich diskutiert. Gelten die Ausführungen des BGH nur für den zuerst versterbenden Elternteil oder auch für den zuletzt Versterbenden? Zum anderen wird in Frage gestellt, ob der Verzicht nur für Bedürftige mit Behinderung oder auch für andere bedürftige Empfänger nachrangiger Sozialleistungen, z.B. die des SGB II, gilt. Für Bedürftige, die nicht behindert sind, wird empfohlen, eine Kombination aus "Bedürftigentestament" und flankierendem Pflichtteilsverzicht nur mit entsprechendem Hinweis auf Wirksamkeitszweifel und unter Aufnahme einer salvatorischen Klausel zu verwenden.[737]

 

Rz. 436

Im Rahmen der Überleitung des § 93 SGB XII werden die unterschiedlichen Rechtsauffassungen nicht ausgetragen und die Argumente haben allesamt keine Bedeutung, weil im Rahmen der Überleitung keine materiell-rechtliche Prüfung über das Bestehen und den Umfang des gegen einen Dritten bestehenden Anspruchs erfolgt. Wäre das Bestehen des übergeleiteten Anspruchs nämlich eine objektive Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Überleitung, so müsste das Gericht auch über die Rechtmäß...

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