Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 518
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass nach der Entscheidung des BGH "unterlassene Behindertentestamente" nach dem Erbfall "nachgeholt" werden können. Sei ein behinderter Sozialleistungsbezieher kraft gesetzlicher Erbfolge oder aufgrund einer nicht (mehr) passenden letztwilligen Verfügung zum unbeschränkten Erben berufen, entstehe in seiner Person ein vorrangig einzusetzender Vermögenswert, der (weitere) Sozialhilfeleistungen (zunächst) ausschließe. In einer solchen Konstellation könne der Behinderte die Erbschaft ausschlagen und mit dem Nächstberufenen eine Vereinbarung treffen, wonach er von diesem als Abfindung für die Ausschlagung Leistungen erhalte, die – wie aufgrund einer Verwaltungsanordnung – in einem "Behindertentestament" gem. § 2216 Abs. 2 BGB nicht auf die Sozialhilfeleistungen angerechnet würden. Einer solchen Ausschlagung könne nunmehr nicht mehr der Einwand der Sittenwidrigkeit entgegengehalten werden. Dies müsse jedenfalls dann gelten, wenn das Kind im Ergebnis zu Lebzeiten so gestellt wird, wie es beim Erbfall aufgrund eines Behindertentestaments stünde.
Rz. 519
Dass ein solche Vertrag grundsätzlich möglich ist, lässt sich aus der Rechtsprechung des BGH sicherlich ableiten. Dass er praktisch funktioniert, ist allerdings eher problematisch. Zunächst müsste bedacht werden, welche Sozialleistungen der behinderte/nicht behinderte Mensch bezieht. Für behinderte Menschen ist zusätzlich das SGB IX mit seinem völlig anderen steuerrechtlichen Einkommensbegriff und seinem wesentlich höheren Schonvermögen zu bedenken.
Das Sozialhilferecht des SGB XII nimmt auch keine Rücksicht auf Zweckvereinbarungen oder Bedingungen aus Verträgen. Warum etwas zufließt und damit Einkommen ist, ist im Sozialhilferecht SGB XII ohne Bedeutung. Entscheidend ist, dass mit dem Vertrag ein schuldrechtlicher Anspruch auf Erfüllung der Vereinbarung entsteht, der auch überleitungsfähig ist. Es ist also fraglich, wie man einen "normativen Schutzring" um den Auszahlungsanspruch gegen den Nächstberufenen legen will. Sämtliche Geldleistungen, die im Bedarfszeitraum zufließen, sind Einkommen und kaum zu schützen (Ausnahme z.B. § 87 SGB XII). Würde der vertragliche Anspruch auf Auszahlung/Herausgabe als solches stattdessen als Vermögen behandelt, gilt der Schonvermögensbetrag von § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII (regelhaft 5.000 EUR) und nur wenig ist gewonnen. Faktisch lässt sich ein Nutzen daher nur schaffen, wenn Dinge finanziert werden, die nicht "versilbert" werden können, wie z.B. die Nutzung eines Therapiepferdes. Das hätte der Erblasser aber auch bereits vor seinem Tod vertraglich regeln und seinen Erben aufgeben können, diese vertragliche Regelung beizubehalten.
Rz. 520
Gleichzeitig müsste die Prüfung im SGB IX für die bezogenen Leistungen der Eingliederungshilfe absolviert werden. Dass das alles wirklich sozialhilferechtlich "wasserdicht" in einem zivilrechtlichen Ausschlagungsvertrag verarbeitet werden kann, erscheint im Einzelfall eher unwahrscheinlich, egal ob der Vertrag betreuungsgerichtlich genehmigt werden muss oder nicht.
Soweit er noch zusätzlich genehmigt werden muss, haben der Betreuer und das Betreuungsgericht die Angelegenheiten des Betreuten nach § 1901 Abs. 2 BGB so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Die Entscheidung, ob die Genehmigung einer Erbausschlagung zu erteilen ist, und seinem Wohl entspricht, beurteilt sich unter Berücksichtigung aller, nicht nur der finanziellen Belange des Betroffenen.
Rz. 521
Falllösung Fallbeispiel 38:
S kann, solange noch kein Betreuer bestellt ist, nach dem Erbfall noch durch seinen Betreuer ausschlagen. Fraglich ist, ob die Genehmigung für eine Ausschlagung erteilt wird. Das hängt davon ab, ob sie als wirksam angesehen wird und ob sie dem Wohl des S entspricht.
Fraglich ist, welchen Nutzen S von einer Ausschlagung hätte, wenn man eine solche Gestaltung überhaupt für rechtlich zulässig hält. Mit der Ausschlagung fällt die Erbschaft nach § 1953 Abs. 2 BGB dem an, der berufen sein würde, wenn der Ausschlagende zur Zeit des Erbfalls nicht gelebt hätte. Das ist vorliegend nach §§ 1924 Abs. 3, 1925 Abs. 3 BGB der Vater, weil S keine eigenen Abkömmlinge und keine lebenden Geschwister hat. Ein Pflichtteilsanspruch des S entsteht nicht. Der Sohn könnte ohne Vertrag nur auf den "good will" seines Vaters hoffen, im Rahmen des rechtlich Zulässigen vom Vater zusätzlich unterstützt zu werden. Mit Abfindungsvertrag hätte er dagegen einen Anspruch auf Auszahlungen/Zuwendungen. Die Bandbreite der möglichen anrechnungsfreien Zuwendungen ist in beiden Fällen extrem schmal.
Die Zuwendungen des Vaters, die dieser plant, könnten nach dem oben dargestellten Prüfungsmuster sozialhilferechtliches Einkommen sein (§§ 82 ff. SGB XII). Der Vater kann dem Sohn daher grundsätzlich nichts frei und nach seinem Belieben zuwenden, weil es letztendlich zur Anrechnung kommt.
Tatbestandsvoraussetzung für die Einsatzpflicht von Einkommen ist allerdings seine bedarfsbezogene Verwe...