Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 599
Die sozialrechtliche Erbenhaftung trifft mehrere Erben eines Erbfalls nach § 2058 BGB als Gesamtschuldner. Die Leistung kann von jedem verlangt werden, der Schuldner ist. Das bedeutet aber auch, dass der Sozialhilfeträger einen Erben nur zu dem seinem Erbteil entsprechenden Anteil des Ersatzanspruchs heranziehen kann, wenn seine Miterben aufgrund von § 102 Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGB XII nicht ersatzpflichtig sind.
§§ 421, 2058 BGB geben dem Sozialleistungsträger im Übrigen Auswahlfreiheit. Dieses "Wahlrecht", das im Zivilrecht seine Grenze lediglich im Rechtsmissbrauch findet, ist im öffentlichen Recht insoweit allgemein eingeschränkt, als an die Stelle des "freien Beliebens" ein pflichtgemäßes Ermessen bei der Auswahl des Gesamtschuldners tritt. Für die gesamtschuldnerische Erbenhaftung nach § 102 SGB XII verlangt das BSG hierzu die Bewertung der Umstände, die die tatsächliche finanzielle Belastung des Miterben im Rahmen der Erbengemeinschaft betreffen. Eine Rolle soll insbesondere eine bereits erfolgte Verteilung des Erbes, wenn sie vor Kenntnis von dem Kostenersatzanspruch durchgeführt worden ist, spielen. Relevant sollen auch ein eventueller Verbrauch des ererbten Vermögens, die Anzahl der Erben, der Wert des Nachlasses und die Höhe des Kostenersatzanspruchs sowie die Relation der beiden Werte zueinander und auch die Erbquote sein. Nur eine Gesamtschau der Situation aller Erben werde der individuellen Zahlungspflicht der Erben gerecht.
Rz. 600
Diese Entscheidung des BSG deutet möglicherweise eine allgemein geltende Trendwende bei den Anforderungen für die Auswahl des Haftenden an. Das früher zuständige Bundesverwaltungsgericht hatte sich bisher – allerdings für einen Fall des Zusammentreffens der sozialrechtlichen Erbenhaftung aus zwei Erbfällen – klar und deutlich allein auf das Prinzip der möglichst umfassenden Refinanzierung der Sozialhilfe zurückgezogen. Zwar ging es damals nicht um den Fall einer Gesamtschuld, aber das Unbehagen an der vom Wortlaut her möglichen Inanspruchnahme von Stiefkindern für die Sozialhilfekosten der Stiefmutter war groß. Tritt der Tod des Sozialhilfebeziehers nämlich in nahem zeitlichen Zusammenhang zum vorversterbenden Ehegatten/Lebenspartner ein, stellt sich die Frage, ob es eine Beschränkung des Kostenersatzes entweder auf die Erben des Hilfeempfängers oder die Erben des vorverstorbenen Ehegatten/Lebenspartners gibt. In Zeiten zunehmender Patchworkfamilien kommt dieser Frage erhöhte Bedeutung zu.
Rz. 601
Fallbeispiel 46: Die Patchworkfamilie und das Ranking in der Erbenhaftung
Die in zweiter Ehe verheirateten Ehegatten M und F hatten gegenseitig einen Pflichtteilsverzicht abgegeben. Sie waren hälftige Miteigentümer eines Wohnhauses, das der Ehemann M bis zu seinem Tod bewohnte. Die Ehefrau F war in einem Pflegeheim untergebracht. Die Kosten musste der Sozialhilfeträger mangels eigenen Einkommens bzw. verwertbaren Vermögens (§ 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII) übernehmen. Zunächst verstarb M. Sein Miteigentumsanteil fiel laut Testament an seine Kinder aus erster Ehe. Der Sozialhilfeträger nahm diese für die der F gewährten Sozialhilfeleistungen in Anspruch. Später starb F. Ihre Erben waren ihre Kinder aus ihrer ersten Ehe. Die Erben des Ehemannes wenden sich gegen die Inanspruchnahme auf Kostenersatz für die Kosten der Sozialhilfe ihrer Stiefmutter.
Rz. 602
Falllösung Fallbeispiel 46:
Die Erben der nachverstorbenen Ehefrau F unterfallen nach § 102 SGB XII unmittelbar der sozialrechtlichen Erbenhaftung. Der Wortlaut trifft aber auch auf die Erben des vorverstorbenen Ehemannes M zu. Fraglich ist, ob die nicht mit F verwandten Erben des vorverstorbenen Ehemannes M wegen der Sozialhilfekosten der F in Anspruch genommen werden können, obwohl sie unmittelbare eigene Abkömmlinge hinterlässt.
Wäre der Ehemann M nach seiner Ehefrau F verstorben, so wären aufgrund der letztwilligen Verfügung der Ehefrau deren Kinder Erben geworden und mit der sozialrechtlichen Erbenhaftung des § 102 SGB XII belastet gewesen. Aufgrund des Pflichtteilsverzichtes der Ehefrau wäre auch kein Pflichtteil bezüglich des Nachlasses der Ehefrau entstanden. Die Kinder des Ehemannes M hätten ein unbelastetes Erbe nach dem Ehemann M – ihrem Vater – antreten können.
Aufgrund des Vorversterbens des Ehemannes M und seiner eigenen letztwilligen Verfügung zugunsten seiner Kinder ist der Grundtatbestand des § 102 SGB XII verwirklicht. Durch den nachfolgenden Tod der Ehefrau F kommt ein weiterer Kostenersatzanspruch hinzu, denn auch deren Kinder trifft die sozialrechtliche Erbenhaftung des § 102 SGB XII. Damit stellte sich die Frage des Verhältnisses der beiden Kostenersatzansprüche zueinander. Gibt es eine Reihenfolge der in Anspruch zu nehmenden Erben?
Rz. 603
Das damals noch zuständige BVerwG hat dies verneint und dazu ausgeführt:
1. Kostenersatzansprüche nach § 92c BSHG (jetzt § 102 SGB XII) gegen die Erben des vor dem Hilfeempfänger verstorbenen Ehegatten und gegen die Erben des Hilfeempfängers selbst e...