Rz. 609

Voraussetzung für den Kostenersatz durch den Erben ist, dass die Sozialleistungen dem Hilfeempfänger rechtmäßig bewilligt wurden.[995] Die Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung ist ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal für die Kostenersatzpflicht des Erben.[996] Dabei kommt es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit nur darauf an, ob die dem Erblasser gewährten Leistungen diesem materiell-rechtlich zustanden, während reine Formverstöße ohne Bedeutung sind.

aa) Verhältnis zu den Regeln der Aufhebung von Verwaltungsakten nach SGB X

 

Rz. 610

Bei zu Unrecht erbrachter Leistung ist die Inanspruchnahme von Erben nur möglich, wenn die Voraussetzungen der §§ 45, 50 SGB X vorliegen. Eine analoge Anwendung des § 102 SGB XII scheidet aus.[997] Eine Leistung kann z.B. rechtswidrig erbracht worden sein, wenn der Leistungsbezieher einsatzpflichtige Zuflüsse von Mitteln von vorneherein oder im laufenden Bezug verschwiegen hat oder wenn der Schonvermögenscharakter eines Gegenstandes zu Unrecht angenommen wurde. So ist das selbstbewohnte Hausgrundstück nur dann geschont, wenn es angemessen ist. Ist die Wohnfläche zu groß, besteht kein Schonvermögen. Dann kann eine Verschonung allenfalls nach § 90 Abs. 3 SGB XII wegen Härte in Betracht kommen. Greift auch dieser Tatbestand nicht, dann ist Sozialhilfe rechtswidrig gewährt worden.[998]

 

Rz. 611

Die Bewilligung kann dann nur nach §§ 45 ff. SGB X durch Rücknahme des Verwaltungsaktes – auch gegenüber dem Rechtsnachfolger – beseitigt werden.[999] Es schließt sich die Rückzahlung nach § 50 SGB X an. Diese ist gegenüber dem Rechtsnachfolger möglich. Die Rücknahme für die Vergangenheit ist zeitlich durch eine Jahresfrist begrenzt. Erlässt der Sozialleistungsträger in Verkennung der Tatsachen fälschlicherweise einen Kostenersatzbescheid nach § 102 SGB XII, weil er von rechtmäßiger Gewährung ausgeht, so kann er ihn später nicht mehr in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X umdeuten.[1000]

 

Rz. 612

Die Änderung des Rechtmäßigkeitserfordernisses ist diverse Mal in Gesetzgebungsverfahren angeregt worden, hat sich aber nicht durchgesetzt.[1001] Die Rechtsprechung hat die Rechtmäßigkeitsprüfung bei § 102 SGB XII eingeschränkt. Das Erfordernis der Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung bedeutet danach nicht, dass jeweils der gesamte Fall in dem Sinne aufzurollen ist, dass für jeden Monat die Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung zu überprüfen wäre. Entscheidend ist vielmehr, dass für einen oder mehrere Zeiträume Feststellungen zur Rechtmäßigkeit der Sozialhilfeleistungen getroffen werden, deren Höhe mindestens die Höhe des geltend gemachten Ersatzanspruchs erreicht.[1002] § 102 SGB XII kann auch neben der Aufhebung von Verwaltungsakten nach §§ 45, 48 SGB XII zur Anwendung kommen.

[1000] Schlegel/Voelzke/Grote-Seifert, jurisPK-SGB II, § 35 Rn 52; Grube/Wahrendorf/Flint/Bieback, SGB XII, § 102 Rn 11.
[1001] Vgl. BR-Drucks 617/1/06, Empfehlungen v. 8.9.2006, 14; BR-Drucks 617/06, 13; BT-Drucks 16/2711, 19.

bb) Verhältnis zu § 19 Abs. 5 SGB XII

 

Rz. 613

§ 19 Abs. 5 SGB XII betrifft die "unechte" Sozialhilfe und den Aufwendungsersatzanspruch der für rechtmäßige Aufwendungen an den Erblasser entstanden sind. Er kann den Erblasser betreffen, aber auch die Mitglieder seiner Einsatzgemeinschaft, z.B. bei der Hilfe zur Pflege den daheimgebliebenen Ehegatten. Insoweit geht § 19 Abs. 5 SGB XII vor.[1003]

[1003] Offengelassen BSG v. 27.2.2019 – Az.: B 8 SO 15/17 R, NJW 2019, 3173 ff. Rn 14; LSG Niedersachsen-Bremen v. 23.2.2017 – Az.: L 8 SO 282/13, openJur 2018, 8049.

cc) Verhältnis zu § 93 SGB XII

 

Rz. 614

Wenn eine Forderung vor dem Tod wirksam übergeleitet wurde, dann gehört sie nicht mehr zum Nachlass. § 102 SGB XII kann sich also darauf nicht mehr beziehen, soweit der Sozialhilfeträger damit Forderungen realisiert. Forderungen können nach der Rechtsprechung des BVerwG aber auch nach dem Tod noch übergeleitet werden, "denn aus dem Gesetz ergibt sich keinerlei Anhalt dafür, dass auf die nachträgliche Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe für den Todesfall zugunsten der Erben verzichtet werden sollte."[1004] Folglich muss die Überleitung nach § 93 SGB XII auch insoweit Vorrang haben.

[1004] BVerwG v. 10.5.1990 – Az.: BVerwG 5 C 63.88, BVerwGE 85, 136 ff.

dd) Darlehen

 

Rz. 615

Bei Erbringung von darlehensweisen Sozialhilfeleistungen mindert der Darlehensrückgewähranspruch als vom Erblasser herrührende Schuld den Wert des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalls. Insoweit gelten bei der Bestimmung des Werts des Nachlasses die allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen.

Der Rückgewähranspruch, der Grundlage der Erblasserschuld ist, schließt einen auf denselben Gegenstand gerichteten Kostenersatzanspruch (als Er...

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