Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 370
Den Begriff des Sozialhilferegresses kennt weder das SGB XII noch ein anderes nachrangiges Gesetz. Das SGB XII kennt nur die "Verpflichtungen anderer", beginnend mit den §§ 93 ff. SGB XII und Maßnahmen, mit denen eine vorläufige Hilfegewährung möglich gemacht bzw. repariert wird.
Die Strukturprinzipien des Sozialhilferechtes bilden sich nicht nur im sozialhilferechtlichen Leistungsrecht, sondern auch spiegelbildlich im Leistungsstörungsrecht zwischen Leistungsträger und Sozialhilfebezieher im SGB XII ab. Die Frage ist: "Wie ist leistungsmäßig zu verfahren, wenn "bereite" Mittel noch nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen?"
Rz. 371
Es ist im sozialhilferechtlichen Leistungsverhältnis ein "Störfall", wenn man etwas beanspruchen, aber faktisch nicht gesichert darauf zugreifen kann. Es ist ein "Störfall", wenn "Mittel" für den Leistungsanspruch noch nicht gesichert errechnet werden können, aber zwingend Hilfe geleistet werden muss. Für "Mittel" aus Schenkung oder Erbfall, die aus welchen Gründen auch immer vorübergehend oder gar nicht (mehr) zur Bedarfsdeckung eingesetzt werden können, gilt nichts anderes. Wegen des Bedarfsdeckungsgrundsatzes/des Faktizitäts- und des Gegenwärtigkeitsprinzips müssen Leistungen gleichwohl vorerst erbracht werden. Ausnahmen davon sind gesetzlich ausdrücklich nicht geregelt.
Rz. 372
Das BSG hat entschieden, dass ein Leistungsausschluss in der Existenzsicherung im Hinblick auf den Bedarfsdeckungsgrundsatz einer ausdrücklichen gesetzlichen Normierung bedarf. Weder § 2 Abs. 1 S. 1 SGB II ("Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen") noch § 3 Abs. 3 SGB II ("Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dürfen nur erbracht werden, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann") regelten eigenständige Ausschlusstatbestände. Das gilt entsprechend für § 2 SGB XII. Es handelt sich um Grundsatznormen, die durch die Regelungen insbesondere über den Einsatz von Einkommen und Vermögen bzw. sonstigen leistungshindernden Normen konkretisiert werden und regelmäßig nur im Zusammenhang mit ihnen Wirkung entfalten. Nur im "extremen Ausnahmefall" hat das BSG einen Leistungsausschluss ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII bisher für denkbar gehalten, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließt und Ansprüche ohne weiteres realisierbar sind.
Rz. 373
Ansonsten reagiert das SGB XII – wie auch das SGB II – auf den aus verfassungsrechtlich gebotenen Gründen "vorläufigen Vorrang" der Sozialhilfeleistung mit einem dezidierten System eigener Störfallregeln. Die dem Grunde nach vorhandenen Mittel verlieren ihre Rechtsqualität als einzusetzende oder zu verwertende Mittel nicht.
Rz. 374
Das SGB XII – wie das SGB II – weisen dem Sozialhilfeträger ein Instrumentarium aus Darlehens-, Aufwendungsersatz-, Kostenersatz- und Regressregeln zu. Damit wird dem Sozialhilfeträger an die Hand gegeben, die Subsidiarität der Sozialhilfe nachträglich wiederherzustellen und/oder auch auf grobe Verletzungen des Nachranggrundsatzes (z.B. sich vorsätzlich bedürftig zu machen) zu reagieren.
Dem Sozialhilfeträger steht zur Realisierung solche Regressansprüche, mit denen der Nachrang der Sozialhilfe hergestellt wird, ein vorbereitender Auskunftsanspruch nach § 117 SGB XII zu. Nach § 117 SGB XII haben die Kostenersatzpflichtigen dem Träger der Sozialhilfe über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse Auskunft zu erteilen, soweit dies zur Durchführung des SGB XII erforderlich ist. Nur offensichtlich sinnlose Auskunftsverlangen verfehlen den vorgenannten Zweck und sind unzulässig. Damit wird eine gesetzliche Lücke bei den Personen geschlossen, die leistungsberechtigt sind und deshalb keiner Auskunftsverpflichtung nach § 60 SGB I unterliegen.
Rz. 375
Das Auskunftsverlangen, das durch Verwaltungsakt geltend gemacht wird, bildet eine Vorstufe zu den Rückgriffsregeln der §§ 93 und 102 SGB XII und ist Ausdruck des in § 2 SGB XII normierten Grundsatzes des Nachrangs der der Sozialhilfe, der sich im Sozialhilfe-Regress verkörpert.
Abb.: Sozialhilferegress im SGB XII
Rz. 376
Diese Regeln sind im Lichte der Strukturprinzipien des Sozialhilferechtes anzuwenden und auszulegen. Aus den Strukturprinzipien ergibt sich somit ein Leistungsstörungsrecht bzw. Regressrecht, das sich im Wesentlichen wie folgt darstellt:
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Ein Anspruch auf Leistungen als Zuschuss besteht nicht, wenn eigenes und/oder in der Einsatzgemeinschaft aktuell zur Verfügung stehendes, nicht normativ geschontes und zur Bedarfsdeckung geeignetes Einkommen oder Vermögen vorliegt. |
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Eine Leistung kann unter besonderen Voraussetzungen zur Sicherstellung der aktuellen Bedarfsdeckung als Darlehen beansprucht werden (§§ 37, 38, 91 SGB XII). |
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Für eine Leistung können unter besonderen Voraussetzungen zur Sicherstellung einer aktuellen Bedarfsdeckung Aufwendu... |