Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 35
Das Sozialhilferecht ist final ausgerichtet. Es geht darum, einen in der aktuellen Situation konkret vorhandenen Bedarf (Bedarfsdeckungsgrundsatz) zu decken. Im Bedarfsdeckungsgrundsatz kommt zum Ausdruck, dass als Sozialhilfe nur das zu leisten ist, was zur Deckung des konkreten Bedarfs notwendig ist. Es ist nicht Aufgabe der Sozialhilfe, zur Vermögensbildung beizutragen. Z.T. wird vom Verbot der Vermögensmehrung gesprochen.
Rz. 36
Im Grundsatz der Bedarfsdeckung kommt auch zum Ausdruck, dass es auf die Ursache der Bedürftigkeit nicht ankommt. Warum Bedarf und Bedürftigkeit entstanden sind, interessiert auf der Ebene der Anspruchsentstehung nicht. In finalen Leistungssystemen ist ein Selbstverschulden mit wenigen Ausnahmen weder rechtshindernde noch rechtsvernichtende Einwendung. Hilfe ist also auch dann (weiter) zu gewähren, wenn von vornherein feststeht, dass der Hilfesuchende sich selbst bedürftig gemacht hat und jetzt keine aktuelle Hilfemöglichkeit (mehr) hat. Das Bundesverfassungsgericht leitet dies aus der Menschenwürde ab: "Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch ein vermeintlich "unwürdiges" Verhalten nicht verloren." Der Sozialhilfeträger ist dann auf sein Instrumentarium zur Wiederherstellung der Subsidiarität (Darlehen/Herabsetzung der Leistungen/Kostenersatz) beschränkt, und zwar selbst dann, wenn die Bedürftigkeit durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt wurde. Nach diesseitiger Ansicht wird deshalb auch die Prüfung von § 138 BGB durch das sozialhilferechtliche Instrumentarium verdrängt.
Rz. 37
Entgegen immer noch gängiger Verwaltungspraxis ist es – mit Ausnahme von § 41 Abs. 4 SGB XII – unzulässig, existenzsichernde Leistungen mit der Begründung zu versagen, dass die Hilfebedürftigkeit bei einem bestimmten wirtschaftlichen Verhalten abzuwenden gewesen wäre. Mit der Rechtsprechung des BVerfG hat das BSG betont, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Dies wird in der Praxis immer wieder angegriffen bzw. negiert, obwohl sich schon das BVerwG insoweit klar geäußert hat.
Rz. 38
Aus der Rechtsprechung/Kommentarliteratur zum BSHG bzw. SGB XII hierzu einige klare Aussagen:
▪ |
Hat der Hilfesuchende eine zur Deckung des Bedarfs bewilligte Beihilfe bestimmungswidrig anderweitig verwendet, hat die Behörde notfalls nachzubewilligen oder durch Sachleistung die Bedarfsbefriedigung sicherzustellen. Eine verschuldete Notlage darf nicht zur Verweigerung von Sozialhilfe führen. |
▪ |
Dem Einsatzpflichtigen kann nicht entgegengehalten werden, dass einzusetzendes Vermögen zwingend zur Abwendung von Notlagen verwendet werden muss und er es nicht in der Hand haben darf – z.B. durch Abtretung – Vermögen zu Lasten der Sozialhilfe anzusammeln. Außerhalb des Anwendungsbereichs von Herabsetzung und Kostenersatz hat der Sozialhilfeträger keine Handhabe darauf zu reagieren, wenn sich Personen verwertbaren Vermögens begeben und dadurch Sozialhilfebedürftigkeit herbeigeführt haben. Insbesondere sieht das Gesetz nicht die Sanktion der Leistungsverweigerung vor. |
▪ |
Bei vorzeitigem Verbrauch von Einmaleinkommen muss erneut geholfen werden. |
▪ |
Die Verweigerung existenzsichernder Leistungen aufgrund der Annahme, dass die Hilfebedürftigkeit bei bestimmtem wirtschaftlichen Verhalten abzuwenden gewesen wäre, ist mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar. |