Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 639
Beim Behinderten-/Bedürftigentestament kann § 102 SGB XII dann eine bedeutsame Rolle spielen, wenn der Testamentsvollstrecker nicht alle Erbmittel, die er nach den Verwaltungsanordnungen des Erblassers gem. § 2216 Abs. 2 BGB für den Bedürftigen hätte ausgeben sollen, auch tatsächlich ausgegeben hat.
aa) Die übrig gelassenen Erträge
Rz. 640
Wie sich aus §§ 2111 Abs. 1 S. 1 und 2133 BGB ergibt, stehen dem Vorerben die ordnungsgemäß gezogenen Nutzungen des Nachlasses zwischen dem Erbfall und dem Nacherbfall zu. Nutzungen sind gem. § 100 BGB die Früchte (§ 99 BGB) und Gebrauchsvorteile der Nachlassgegenstände. Nutzungen fallen nicht in den Nachlass, sondern in das Vermögen des Vorerben. Mit der Vorerbschafts-/Nacherbschaftslösung geht das Vermögen vom unmittelbaren Erblasser aus auf den Nacherben über und nicht vom bedürftigen Bedachten, was eine sozialrechtliche Erbenhaftung für die Substanz – nicht aber für die nicht bestimmungsgemäß verwendeten Erträge – vermeidet. Lebzeitig wird dies durch die Anordnung der Dauertestamentsvollstreckung verhindert. Nicht verbrauchte Erträge aus der nicht befreiten Vorerbschaft gehen mit dem Tod des Vorerben aber in dessen Nachlass über und unterliegen deshalb der Erbenhaftung. Das ist bei Lebzeiten des Vorerben durch den Testamentsvollstrecker unbedingt zu beachten. Rechtsgestaltend wird empfohlen, den Vorerben mit einem Herausgabevermächtnis zu beschweren. Diese Empfehlung ist aber nicht unumstritten.
bb) Probleme der Vermächtnislösung
Rz. 641
Die sozialhilferechtliche Erbenhaftung spielt eine weitere Rolle, wenn im Rahmen des Behinderten-/Bedürftigentestaments die Anordnung von Vorvermächtnis und Nachvermächtnis gewählt wird.
Die Vermächtnislösung gilt wegen der sozialhilferechtlichen Erbenhaftung als nicht gesicherte Lösung. In der Literatur wird über die Eignung der Lösung heftig gestritten (siehe dazu nachfolgend beim Behindertentestament in § 11). Die Probleme dieser Lösung sind seit 1.1.2020 aber weitestgehend erledigt. Seit 1.1.2020 ist die von behinderten Menschen regelhaft bezogene Eingliederungshilfe im SGB IX geregelt. Das SGB IX kennt keine Erbenhaftung. Die Existenzsicherung erfolgt im SGB XII über die Hilfe zum Lebensunterhalt und die Grundsicherung, die vorrangig vor der Hilfe zum Lebensunterhalt ist. Somit wird ein behinderter Mensch, der Grundsicherung und Eingliederungshilfe bezieht, kein Problem mehr mit der sozialhilferechtlichen Erbenhaftung haben. Der vorstehend erörterte Contergan-Fall würde daher so nicht mehr entschieden werden können.