Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 30
In der Praxis bereitet große Probleme, dass die Ausschlagung fristgebunden ist, der Pflichtteilsberechtigte also unter "Zeitdruck" steht. Innerhalb der allgemeinen Ausschlagungsfrist des § 1944 Abs. 1 BGB muss er im Allgemeinen klären, ob die Annahme des belasteten Erbteils oder die Ausschlagung zur Pflichtteilserlangung günstiger ist. Vielfach wird daher die Faustregel gegeben: Im Zweifel für die Ausschlagung. Um zu verhindern, dass der Pflichtteilsberechtigte infolge Fristablaufs nicht mehr ausschlagen kann, wenn er erst später von den Belastungen erfährt, stellt § 2306 Abs. 1 Hs. 2 BGB für den Beginn der Ausschlagungsfrist über die allgemeinen Voraussetzungen des § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB (Kenntnis von Erbanfall und Berufungsgrund) hinaus ein zusätzliches Erfordernis auf: Der Pflichtteilsberechtigte muss von den Beschränkungen und Beschwerungen Kenntnis erlangt haben. Wenn er die Verfügung von Todes wegen für nichtig hält, so hindert dies den Fristbeginn bereits nach § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB; hält er die tatsächlich bestehenden Beschränkungen für unwirksam, so ist dies der Fall des § 2306 Abs. 1 Hs. 2 BGB. Nimmt er aber zu Unrecht an, dass derartige Belastungen bestehen, so wird dadurch die Ausschlagungsfrist nicht gehemmt.
Rz. 31
Diskutiert wird, ob die Reform des § 2306 BGB auch Auswirkungen auf den Beginn der Ausschlagungsfrist hat. Ausgangspunkt hierfür ist, dass die Rspr. die Frist für die Ausschlagung erst dann beginnen ließ, wenn der pflichtteilsberechtigte Erbe bei ausgleichungs- oder anrechnungsbedürftigen Zuwendungen Kenntnis über den Wert dieser Vorempfänge hatte und so die entsprechende Berechnung vornehmen konnte. Nunmehr wird daher die Auffassung vertreten, dass der Reformgesetzgeber den Fristbeginn ausschließlich an die Kenntnis von Beschränkungen und Beschwerungen geknüpft habe und nicht länger an diejenige des konkreten Wertes von Vorempfängen. Damit sei dieser Rspr. der Boden entzogen worden, zumal die Höhe des Erbteils nicht mehr bedeutsam sei. Die Konsequenz wäre, dass die Frist im Regelfall bereits mit Kenntnis des Inhalts des Testaments beginnen würde. Bei komplexen Nachlässen, bestehend etwa aus Kunstwerken oder Unternehmensbeteiligungen, bestünde daher kaum die Möglichkeit, eine rechtzeitige Wertermittlung vorzunehmen. Die Gegenansicht lehnt dies demgegenüber ab. Denn der Reformgesetzgeber habe die Regelung in § 2306 Abs. 1 BGB insoweit unverändert bestehen gelassen, wonach die Ausschlagungsfrist erst beginnt, wenn der Pflichtteilsberechtigte von der Beschränkung oder der Beschwerung Kenntnis erlangt. Auch aus der Gesetzesbegründung lasse sich nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der "Nicht-Änderung" eine Abkehr von der jüngeren Rspr. zum Ausdruck bringen wollte. – Jedoch hat diese Kontroverse den Ausgangspunkt der genannten Rspr. aus den Augen verloren. Denn es ging bei dieser allein um die Frage, wie sich die Anrechnungs- und Ausgleichungspflicht von Vorempfängen im Rahmen der sog. Werttheorie auf die von § 2306 Abs. 1 S. 1 BGB getroffene Grenzziehung zwischen den beiden Falllagen des § 2306 Abs. 1 BGB a.F. auswirkt. Es ging dabei allein um die Bestimmung des Vergleichsmaßstabs "Hälfte des gesetzlichen Erbteils". Demgegenüber betrifft die jetzt geführte Diskussion die Frage, in welchem Umfang der dem Pflichtteilsberechtigten gemachte Erbteil werthaltig ist. Es geht also allein um die Frage, was ihm letztlich hinterlassen ist. Damit hat die genannte Rspr. aber nichts zu tun. Auch wenn die Klärung der Frage, ob ein Vorausvermächtnis oder eine Teilungsanordnung in einem eigenhändigen Testament angeordnet wurde, oftmals schwierig zu beantworten ist, so vermag ein solches Auslegungsproblem keinen verzögerten Fristanlauf bis zur Klärung der Rechtslage zu begründen: Rechtsirrtümer gehen nach unserer Rechtsordnung regelmäßig zu Lasten des Betroffenen.