Dr. iur. Nikolas Hölscher
1. Ausgangsüberlegung
Rz. 59
Der Pflichtteilsanspruch bestimmt sich nach dem Pflichtteilsbruchteil und dem Wert des Nachlasses (§ 2303 Abs. 1 S. 2 BGB). Der Pflichtteilsbruchteil richtet sich dabei grundsätzlich nach der Erbquote der gesetzlichen Erbfolge (§§ 1924 ff. BGB). Die Akzessorietät zwischen Erb- und Pflichtteilsquote wird aber durch § 2310 S. 1 BGB für bestimmte Fälle durchbrochen. Denn maßgebend ist für die Berechnung der Pflichtteilsquote nicht die tatsächlich eingetretene konkrete gesetzliche Erbfolge, sondern die abstrakte. Damit vergrößert der Wegfall eines Pflichtteilsberechtigten grundsätzlich nicht den Anspruch der anderen, sondern entlastet sogar den Erben. Dadurch wird insb. die Pflichtteilsquote der anderen insoweit sowohl der Disposition des Erblassers, aber auch der gesetzlichen Erben entzogen und die Vorhersehbarkeit der Pflichtteilsberechtigung erleichtert. Dagegen sind die Folgen des Erbverzichts bereits vor dem Erbfall vorhersehbar, so dass er sich auch auf die Pflichtteilsquote auswirkt (§ 2310 S. 2 BGB).
2. Grundregel nach § 2310 S. 1 BGB; Sonderregelung des § 2309 BGB
Rz. 60
Grundsätzlich mitgezählt werden für die Berechnung der Pflichtteilsquote alle Personen, die zum Zeitpunkt des Erbfalls als gesetzliche Erben berufen wären, auch wenn sie im konkreten Fall durch Enterbung (durch negatives Testament nach § 1938 BGB oder erschöpfende Erbeinsetzung anderer Personen), Erbunwürdigkeitserklärung (§§ 2339 ff. BGB) oder Ausschlagung der (gesetzlichen oder gewillkürten) Erbschaft weggefallen sind. Bei der Ausschlagung ist es unerheblich, ob der Betroffene dadurch nach den allgemeinen Grundsätzen an sich sein Pflichtteilsrecht verliert oder dieses im Fall von § 2306 Abs. 1 BGB erst bekommt. Unbeachtlich ist, ob derjenige, der nach § 2310 S. 1 BGB bei der Ermittlung der Pflichtteilsquote mitzuzählen ist, im konkreten Fall tatsächlich einen Pflichtteil gehabt hätte; so hat auch der Erbunwürdige immer keinen Pflichtteil. Mitzuzählen ist daher auch derjenige, dem zu Recht der Pflichtteil entzogen wird (§§ 2333 ff. BGB) oder der auf seinen reinen Pflichtteil verzichtet hat.
Rz. 61
Aus § 2310 S. 1 BGB ergibt sich als Rechtsfolge, dass die Pflichtteilsquote der übrigen Pflichtteilsberechtigten wegen des rechnerischen "Mitzählens" der dort Genannten nicht vergrößert wird, ja deren Wegfall letztlich dem Erben als Pflichtteilsschuldner zugute kommt. Denn § 2310 S. 1 BGB dient nur zur Berechnung der Pflichtteilsquote, sagt aber nichts darüber, ob jemand, der allgemein zum pflichtteilsberechtigten Personenkreis gehört, im konkreten Fall auch wirklich pflichtteilsberechtigt ist. Geändert werden durch § 2310 BGB aber nicht die Grundsätze der Verwandtenerbfolge (§§ 1924 Abs. 2, 1930, 1935 BGB). Der vor dem Erbfall Verstorbene wird daher ebenso wenig berücksichtigt wie der, dessen Verwandtschaft infolge einer Annahme als Kind erloschen ist (§ 1755 BGB).
Rz. 62
Gegenüber § 2310 BGB stellt jedoch § 2309 BGB eine vorrangige Sonderregelung dar. Der als Pflichtteilsberechtigte ausfallende nähere Berechtigte darf daher, wenn es um den Pflichtteil entfernterer Abkömmlinge oder der Eltern geht, nicht zu Lasten des entfernteren Berechtigten mitgezählt werden, denn § 2310 BGB will nur die Pflichtteilsquoten festlegen und nicht den bereits durch § 2309 BGB eröffneten Pflichtteilsanspruch wieder beseitigen.
Beispiel
Der Erblasser hinterlässt den Sohn S und seinen Vater V; er beruft den S zum unbelasteten Alleinerben (sonst § 2306 Abs. 1 BGB) und seinen Freund F zum Ersatzerben. S schlägt die Erbschaft aus. Dann ist der Vater V pflichtteilsberechtigt (§ 2309 BGB); dies wird auch nicht durch § 2310 S. 1 BGB verhindert. Die Pflichtteilsquote des Vaters V, der ohne die Ausschlagung des Sohnes S nicht erbberechtigt gewesen wäre, beträgt ½.
Rz. 63
Im Verhältnis zum überlebenden Ehegatten ist der weggefallene Abkömmling demgegenüber immer mitzuzählen, und zwar auch dann, wenn dieser im Verhältnis zu den Eltern des Erblassers nicht zu berücksichtigen ist. Denn § 2309 BGB erfasst nicht das Verhältnis des Ehegatten zu den entfernteren Pflichtteilsberechtigten. Dies führt nicht immer zu widerspruchsfreien Ergebnissen.
Beispiel
Der Erblasser hinterlässt seinen kinderlosen Sohn S, seine Witwe W aus Zugewinngemeinschaftsehe und seinen Vater V. Als Alleinerbe wurde S berufen, ersatzweise der Freund F. Sohn S schlägt aus. Der Pflichtteil der W beträgt ⅛, da ihr gegenüber der Sohn S nach § 2310 S. 1 BGB bei der Berechnung des Pflichtteils mitzuzählen ist; V ist demgegenüber nach § 2309 BGB infolge der Ausschlagung des S pflichtteilsberechtigt. Der Pflichtteil des Vaters beträgt wegen § 2309 BGB demgegenüber ¼, denn sein gesetzlicher Erbteil betrüge neben der Witwe ½ (§§ 1931 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, Abs. 3, 1371 Abs. 1 BGB). W stellt sich also pflichtteilsmäßig schlechter als V, obgleich sie be...