Dr. iur. Nikolas Hölscher
1. Überleitung des Pflichtteilsanspruchs
Rz. 91
Angesichts ständig steigender Leistungen von Sozialhilfe- (SGB XII) und Grundsicherungsträgern (SGB II) erlangt zunehmend praktische Bedeutung, inwieweit diese nach dem Eintritt des Erbfalls auch auf einen Pflichtteilsanspruch zugreifen können. Die Rspr. des BGH ist ihnen wohl gewogen. Denn danach gelten die sich aus § 852 ZPO ergebenden Beschränkungen für die Überleitung durch einen Sozialhilfeträger nach § 93 Abs. 1 SGB XII nicht. Dieser ist insoweit gegenüber dem (normalen) Pfändungsgläubiger privilegiert. Denn in den Fällen des Sozialhilferegresses kommt es somit auf die Entscheidung des Pflichtteilsberechtigten gerade nicht an.
Rz. 92
Dies kann aber aus systematisch-dogmatischen Gründen schon deshalb nicht richtig sein, weil dann der pflichtteilsberechtigte Erbe wegen § 83 Abs. 1 S. 1 InsO zwar sanktionslos die Erbschaft als weitergehendes Recht ausschlagen könnte, aber der Pflichtteilsanspruch immer dem Sozialhilfeträger zufiele. Damit würde jedoch der Sozialhilfeträger gegenüber anderen Gläubigern wesentlich privilegiert. Im Hinblick auf Art. 3 GG ist dies auch verfassungsrechtlich bedenklich. Denn die reinen Finanzierungsinteressen des Staates vermögen gegenüber den Interessen anderer Gläubiger ebenso wenig einen Vorrang zu begründen wie gegenüber der höchstpersönlichen Entscheidung des Betroffenen. Diese Rspr. des BGH bedarf auch aus einem anderen Grund zwingend der Korrektur: Mittlerweile hat der gleiche Senat des BGH die Rechtsfigur der sog. negativen Erbfreiheit entwickelt, die sogar von der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst werde: Danach gibt es keine Pflicht zu erben und dem Erben steht das Recht zu, die Erbschaft in den dafür vorgesehenen Formen ausschlagen zu können. Dieses Recht muss aber im Grundsatz auch für den Erwerb von Vermächtnis- und Pflichtteilsansprüchen gelten. Demnach ist ein Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 2 BGB) wirksam, selbst wenn der Pflichtteilsberechtigte bei Abschluss des Verzichts bereits Sozialhilfe bezieht. Diese vom BGH postulierte "negative Erbfreiheit" würde aber ebenfalls unzulässig unterlaufen, wenn der Sozialhilfeträger gegen den Willen des Pflichtteilsberechtigten den Pflichtteilsanspruch überleiten und dann geltend machen könnte. Bei richtiger Betrachtung stellt sich daher die verfahrensrechtliche Vorschrift des § 852 ZPO als notwendige Ergänzung dar, um die nach Ansicht des BGH verfassungsrechtlich garantierte "negative Erbfreiheit" praktisch umzusetzen und dafür zu sorgen, dass die unterschiedlichen Sukzessionskonzepte, die der Gesetzgeber des BGB bei der Erbfolge einerseits und dem Pflichtteilsanspruch andererseits gewählt hat, angemessen zu harmonisieren. Daher ist zwingende Folge der Rechtsfigur der "negativen Erbfreiheit", dass die vollstreckungsbeschränkte Vorschrift des § 852 ZPO auch auf die Überleitung von Pflichtteilsansprüchen auf einen Sozialhilfeträger nach § 93 SGB XII entsprechende Anwendung findet.
Rz. 93
Gleiches gilt für den gesetzlichen Forderungsübergang auf einen Grundsicherungsträger nach § 33 SGB II bei der Gewährung von Grundsicherung für Arbeitsuchende, da insoweit kein Wertungsunterschied besteht.
2. Überleitung des Ausschlagungsrechts zur Pflichtteilserlangung (§§ 2306, 2307 BGB)
Rz. 94
Wendet man einem sozialhilfegefährdeten Pflichtteilsberechtigten einen Erbteil zu, der durch die Anordnung einer Dauer- oder Verwaltungsvollstreckung und einer Nacherbschaft gegen den Zugriff durch den Sozialhilfeträger geschützt ist (§§ 2214, 2100 ff. BGB), so stellt sich die Frage, ob der Sozialhilfeträger das dann dem Pflichtteilsberechtigten nach § 2306 Abs. 1 BGB zustehende Ausschlagungsrecht nach § 93 SGB XII bzw. § 33 SGB II überleiten könnte. Damit könnte er die ganze Gestaltung zu Fall bringen und auf den dadurch entstehenden Pflichtteilsanspruch zugreifen. Von besonderer praktischer Bedeutung ist die Frage beim Behindertentestament und beim sog. Bedürftigentestament für den Empfänger von "Hartz IV" in der Form der E...