Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 112
Das klassische Patientenverfügungsformular des BMJ orientiert sich an 4 Lebens- und Behandlungssituationen und weist auf die Möglichkeit hin, weitere Lebenssituationen zu benennen. Andere Muster tun sich schwer mit der Regelung des unumkehrbaren Hirnschadens und des Hirnabbauprozesses und regeln diese Situationen nicht ausdrücklich.
Rz. 113
Meines Erachtens nach müssen alle 4 Lebens- und Behandlungssituationen mit dem Mandanten offen und klar erörtert werden. Werden alle 4 Lebens- und Behandlungssituationen aufgenommen, bedarf es im Regelfall auch noch einer Auffangklausel für den Fall, dass keine der 4 Lebens- und Behandlungssituation den Zustand beschreibt, in der sich der Betroffene befindet. Das kommt nicht so selten vor. Die Auffangklausel muss eine Situation beschreiben, die für den Betroffenen vergleichbar schwere Auswirkungen hat wie die klassischen 4 Grundsituationen. Zumeist meinen die Mandanten damit eine Situation, in der sie nicht mehr kommunizieren können und andere Personen ihre existentiell wichtigen Lebensfunktionen aufrechterhalten. Von Mandanten wird das beschrieben als ein Zustand fehlender Teilhabe am eigenen wie am Leben der anderen; ein Zustand, in dem man nicht mehr selbst lebt, sondern "quasi von anderen gelebt wird".
Rz. 114
Muster 3.10: Vier klassische Lebens- und Behandlungssituationen nach BMJ-Muster
Muster 3.10: Vier klassische Lebens- und Behandlungssituationen nach BMJ-Muster
Meine nachfolgenden Anordnungen finden Anwendung, wenn
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ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde |
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ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit befinde, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist (infauste Prognose) |
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infolge einer Gehirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, nach Einschätzung zweier erfahrener Ärztinnen oder Ärzte (können namentlich benannt werden) aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist. Dies gilt für direkte Gehirnschädigung z.B. durch Unfall, Schlaganfall oder Entzündung ebenso wie für indirekte Gehirnschädigung z.B. nach Wiederbelebung, Schock oder Lungenversagen. Es ist mir bewusst, dass in solchen Situationen die Fähigkeit zu Empfindungen erhalten sein kann und dass ein Aufwachen aus diesem Zustand nicht ganz sicher auszuschließen, aber unwahrscheinlich ist (irreversibler Hirnschaden) |
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ich infolge eines weit fortgeschrittenen Hirnabbauprozesses (z.B. bei Demenzerkrankung) auch mit ausdauernder Hilfestellung nicht mehr in der Lage bin, Nahrung und Flüssigkeit auf natürliche Weise zu mir zu nehmen (fortgeschrittener Hirnabbauprozess) |
Rz. 115
Obwohl man annehmen könnte, dass man als Gestalter mit diesen Textvorschlägen des BMJ auf der sicheren Seite ist, gibt es in der Anwendungspraxis immer wieder Probleme. Die unmittelbare Sterbephase und auch die infauste Prognose machen als Fallkategorie weniger Probleme, aber schon beim unumkehrbaren Hirnschaden beanstanden Ärzte, dass man generell nie feststellen könne, ob die Fähigkeiten des Patienten unwiederbringlich erloschen seien. So wird berichtet, dass z.B. die Wahrscheinlichkeit, aus einem länger andauernden Wachkoma wieder aufzuwachen, viel größer ist, als man gemeinhin bisher annahm. Deshalb wird erörtert, ob die Anforderungen zur Beendigung medizinischer Maßnahmen bei einem länger andauernden Wachkoma zu konkretisieren sind.
Rz. 116
Die Diskussion über den Grad der Aufwachwahrscheinlichkeit mag aus medizinischer Sicht zutreffend sein. Aus juristischer Sicht ist das eine Diskussion über die Anforderungen an den Beweismaßstab, denn mit der gewählten Formulierung wird ja gerade nicht gefordert, dass man 100 % sicher ausschließen kann, dass jemand wieder aufwachen wird. Das meinen die Betroffenen in der Regel auch gar nicht, wenn man sich die Patientenverfügung als Ganzes anschaut. Es wird von den Betroffenen gerade kein Vollbeweis gefordert, sondern als Beweismaßstab für das Vorliegen der Lebens- und Behandlungssituation reicht nach der Formulierung die Wahrscheinlichkeit aus. Selbst der Vollbeweis verlangt keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen, weil ein darüberhinausgehender Grad an Gewissheit so gut wie nie zu erlangen ist. Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten.
Rz. 117
Wer sichergehen will, setzt einen klarstellenden Satz über den zu fordernden Beweismaßstab hinzu, denn letztendlich geht es bei der Entscheidung über die Umsetzung der Patientenverfügung immer um das Haftungsrisiko und wer ab wann und unter welchen Voraussetzungen das Irrtumsrisiko trägt.
Rz. 118
Muster 3.11: Beweismaßstab
Muster 3.11: Beweismaßstab