Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 56
Die Behandlung eines einwilligungsunfähigen Patienten entgegen einer im einwilligungsfähigen Zustand geschrieben Patientenverfügung ist grundsätzlich unzulässig und kann auch nicht durch § 1906 BGB (§ 1831 BGB n.F.) oder eine öffentlich-rechtliche Unterbringung überwunden werden. Behandlungen, die ein Patient im Zustand der Einsichtsfähigkeit durch eine Patientenverfügung wirksam ausgeschlossen hat, können nicht mit staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 GG legitimiert werden. Das taucht als Problem insbesondere bei sog. psychiatrischen Patientenverfügungen auf. In solchen Patientenverfügungen wird häufig die Medikation mit Neuroleptika oder anderen schwer sedierenden Medikamenten verboten und es nicht selten fraglich, ob dies wirklich im Zustand der Einwilligungsfähigkeit geschehen ist. Denn nur dann ist die Entscheidung bindend.
Hinweis
Es gibt insbesondere bei Patienten mit psychiatrischen Krankheitsbildern Gestaltungen, bei denen der Patient mit seinem behandelnden Arzt, der ihn beraten und aufgeklärt hat, eine positive Behandlungsvereinbarung für den Fall einer zukünftigen Behandlungssituation getroffen hat (sog. positive Patientenverfügung oder To-Do-Patientenverfügung).
Rz. 57
Dem Recht auf Errichtung einer Patientenverfügung entspricht das Recht auf jederzeitigen Widerruf einer solchen. Nach § 1827 Abs. 1 S. 3 BGB (§ 1901a Abs. 1 S. 3 BGB a.F.) ist eine Patientenverfügung deshalb – anders als ihre Errichtung – jederzeit formlos widerrufbar.
Ein Problem kann aufgrund des fehlenden Formerfordernisses entstehen, wenn es einerseits eine im einwilligungsfähigen Zustand errichtete Patientenverfügung gibt, andererseits aber eine Erklärung oder ein Verhalten, die als Änderungswillen des Betroffenen interpretiert werden kann. Eine Änderung der Patientenverfügung ist ja letztlich nichts anderes als eine neue Patientenverfügung. Aus diesem Grund wird vertreten, dass der nur teilweise Widerruf nicht formlos möglich sei. Fehle es an der Schriftform, so müsse man die Willensäußerung als Behandlungswunsch verstehen.
Rz. 58
Es ist außerdem umstritten, ob der Widerruf das Fortbestehen der Einwilligungsfähigkeit des Patienten voraussetzt oder ob hierfür der natürliche Wille des Patienten ausreicht. Reichte Letzteres aus, so würde das Handeln des Vorsorgebevollmächtigten trotz zumeist anders lautender Regelung in der Vorsorgevollmacht verdrängt.
Rz. 59
Die Akzeptanz eines nur natürlichen Willens macht die Prüfung eines Widerrufes/die Errichtung einer neuen Patientenverfügung schwierig und führt in die Gefahr, einen ausdrücklich geäußerten Willen durch einen ggf. nur interpretativ ermittelten mutmaßlichen Willen eines irgendwie noch Reagierenden zu ersetzen. Aus Parametern wie Blutdruck, Herzfrequenz etc. darf und kann man m.E. keinen konkludenten Willen ableiten, der es rechtfertigt, einen Widerruf/eine Änderung einer vorherigen Patientenverfügung anzunehmen.
Rz. 60
Genauso problematisch ist die Entscheidung über die Versorgung des "glücklich erscheinenden schwer Dementen", der jegliche Form von medizinischen Maßnahmen bis hin zur künstlichen Ernährung durch eine Patientenverfügung abgelehnt hat. Hier reicht das Meinungsspektrum vom zulässigen Widerruf bei verbliebenem natürlichem Willen bis hin zur Zulässigkeit des Widerrufs nur bei Einwilligungsfähigkeit.
Rz. 61
Die Gesetzesbegründung geht ausdrücklich von der Notwendigkeit einer Einwilligungsfähigkeit für den Widerruf aus ("Primat der Patientenverfügung"). Dem folgt ein Teil der Literatur. Viele andere Autoren vertreten die Auffassung, es müsse auch der natürliche Wille reichen. Die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Freiheitsgrundrechte sei nicht auf die Grundrechte einwilligungsfähiger Patienten beschränkt und deshalb müsse man am natürlichen Patientenwillen anknüpfen.