Isabel Hexel, Martina Hidalgo
I. Anfechtung einer Betriebsratswahl
1. Typischer Sachverhalt
Rz. 266
In einem Druckereibetrieb wurden am 8.5.2020 außerordentliche Betriebsratswahlen durchgeführt. Der Wahlvorstand hatte zur Vorbereitung der Wahl eine Wählerliste mit insgesamt 59 Wahlberechtigten erstellt. Die Liste enthielt u.a. eine sich in Elternzeit befindende Arbeitnehmerin sowie die beiden zu ihrer Vertretung befristet eingestellten Teilzeitkräfte. Außerdem wurden auf der Liste vier Arbeitnehmer aufgeführt, welche sich bereits in der Freistellungsphase im Rahmen der Altersteilzeit befanden. Schließlich umfasste die Wählerliste vier Leiharbeitnehmer, die der Druckerei erstmalig zur Bewältigung einer Auftragsspitze von einer Zeitarbeitsfirma für einen Zeitraum von 2,5 Monaten überlassen wurden. Da der Wahlvorstand alle in der Wählerliste aufgeführten Personen als Arbeitnehmer i.S.d. § 9 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) berücksichtigte, wurde ein aus fünf Mitgliedern bestehender Betriebsrat gewählt. Das Wahlergebnis wurde noch am 8.5.2020 bekannt gegeben. Am 15.5.2020 reichte der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht einen Anfechtungsantrag ein.
2. Rechtliche Grundlagen
Rz. 267
Bei der Wahl eines Betriebsrates sind die Vorschriften der §§ 7 bis 20 BetrVG sowie der Wahlordnung (WO) zu beachten. Wird bei der Durchführung der Betriebsratswahl gegen eine wesentliche Vorschrift über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen, ist die Wahl nach § 19 BetrVG anfechtbar, wenn keine rechtzeitige Berichtigung vorgenommen wurde und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Verstoß das Wahlergebnis beeinflusst oder geändert hat. Die Anfechtung ist wie die Nichtigkeitsfeststellung eine Möglichkeit, ein fehlerhaftes Wahlergebnis nach der Durchführung der Wahl zu korrigieren. Daneben bestehen Möglichkeiten, vor dem Wahlverfahren durch ein Statusfeststellungsverfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG das Vorliegen einer betriebsratsfähigen Organisationseinheit klären zu lassen und während des Wahlverfahrens durch einstweilige Verfügungen eine nichtige Wahl zu verhindern.
a) Verletzung wesentlicher Vorschriften
Rz. 268
Wie bereits aus dem Wortlaut des § 19 BetrVG hervorgeht, berechtigt nur ein Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren zur Anfechtung. Wesentlich sind solche Vorschriften, die tragende Grundprinzipien der Betriebsratswahl beinhalten.
Hinweis
Wesentliche Vorschriften sind grundsätzlich die zwingenden Wahlvorschriften des BetrVG und der WO (sog. Muss-Vorschriften). Ein Verstoß gegen bloße Soll-Vorschriften, wie sie vermehrt in der WO zu finden sind, berechtigt in der Regel nicht zu einer Anfechtung. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn die Soll-Vorschriften, gegen die verstoßen worden ist, tragende Grundsätze des Betriebsverfassungsrechts berühren und deshalb ihrem Zweck nach als wesentlich anzusehen sind (z.B. bei § 2 Abs. 5 WO).
aa) Vorschriften über das Wahlrecht
Rz. 269
Mit "Vorschriften über das Wahlrecht" ist die Regelung der Wahlberechtigung (aktives Wahlrecht) in § 7 BetrVG gemeint. Ein Verstoß liegt daher sowohl bei der Zulassung von Nichtwahlberechtigten als auch bei der Nichtzulassung von Wahlberechtigten vor. In der Praxis können z.B. Fehler bei der Frage der Wahlberechtigung von Leiharbeitnehmern auftreten. Denn überlassenen Arbeitnehmern, die länger als drei Monate im Entleiherbetrieb eingesetzt werden, steht das aktive Wahlrecht zum Betriebsrat nach der Gesetzesbegründung bereits ab dem ersten Arbeitstag im Einsatzbetrieb zu; ihr Wahlrecht im Stammbetrieb bleibt davon unberührt. Zudem ist Vorsicht bei der Zuordnung von Arbeitnehmern bzw. Führungskräften, die nicht als leitende Angestellte i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG zu qualifizieren sind, zum Betrieb in einer Matrixstruktur geboten oder bei z.B. Außendienstmitarbeitern, die für mehrere Betriebe tätig sind. Für die Frage deren Wahlberechtigung kommt es grundsätzlich auf die tatsächliche Eingliederung im Betrieb und somit darauf an, von wem bzw. von wo aus die wesentlichen Arbeitgeberfunktionen ausgeübt werden. Ein Außendienstmitarbeiter z.B. ist daher dem Betrieb zuzuordnen, von dem die Entscheidungen über seinen Einsatz ausgehen und in dem das arbeitgeberseitige Direktionsrecht ihm gegenüber ausgeübt wird. Wie steht es aber nun mit einem Vorgesetzten, an den nicht nur Betriebsangehörige, sondern auch Arbeitnehmer eines anderen Betriebs desselben Unternehmens berichten? Das BAG hat jüngst mit Urteil vom 12.6.2019 folgendes entschieden: Wird ein Arbeitnehmer, der seinen Dienstsitz in einem bestimmten Betrieb des Unternehmens hat und dort regelmäßig tätig ist, zum Vorgesetzten von unternehmensangehörigen Arbeitnehmern ernannt, die in einem anderen Betrieb arbeiten, und verwirklicht er durch die Wahrnehmung dieser Führungsaufgaben (auch) den arbeitstechnischen Zweck dieses anderen Betriebs, ist von dessen Eingliederung im anderen Betrieb auszugehen.