Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
1. Allgemeine Einführung
Rz. 608
Hat der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung frist- und ordnungsgemäß widersprochen und hat der Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach Kündigungszugang Kündigungsschutzklage gemäß § 4 KSchG erhoben, muss der Arbeitgeber nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG auf Verlangen des Arbeitnehmers diesen nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits bei unveränderten Arbeitsbedingungen weiter beschäftigen. Gemäß § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG kann das Arbeitsgericht den Arbeitgeber auf dessen Antrag hin durch einstweilige Verfügung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung entbinden, wenn die Klage des Arbeitnehmers keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen würde oder der Widerspruch des Betriebsrats offensichtlich unbegründet war, vgl. § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 1–3 BetrVG.
a) Voraussetzungen des Weiterbeschäftigungsanspruchs
Rz. 609
Die Weiterbeschäftigungspflicht des Arbeitgebers tritt nur ein, wenn der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung aus den in § 102 Abs. 3 BetrVG abschließend aufgeführten Gründen widerspricht. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen ist § 102 Abs. 5 BetrVG zudem im Fall einer wegen ordentlicher Unkündbarkeit ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung unter Einhaltung einer sozialen Auslauffrist anzuwenden. Für Kündigungen während der Wartezeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG ist § 102 Abs. 5 BetrVG dagegen nicht anwendbar.
Da der Betriebsrat frist- und ordnungsgemäß widersprochen haben muss, muss der Betriebsrat zunächst die Anhörungsfrist gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG einhalten. Ordnungsgemäß ist der Widerspruch nur, wenn der Betriebsrat seine auf § 102 Abs. 3 BetrVG gestützten Bedenken dem Arbeitgeber gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG unter Angabe der Gründe schriftlich mitgeteilt hat. Nicht erforderlich ist, dass die Voraussetzungen eines der Widerspruchsgründe des § 102 Abs. 3 BetrVG tatsächlich vorliegen. Fehlt es an diesen Voraussetzungen, kommt möglicherweise eine Entbindung gemäß § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 BetrVG in Betracht.
Rz. 610
Der Weiterbeschäftigungsanspruch ist des Weiteren nur ausgelöst, wenn der Arbeitnehmer rechtzeitig gemäß § 4 S. 1 KSchG Kündigungsschutzklage erhoben hat. Der Anspruch auf Weiterbeschäftigung entsteht, sobald der Arbeitnehmer den Feststellungsantrag stellt und Weiterbeschäftigung verlangt. Fraglich ist, ob der Arbeitnehmer binnen einer bestimmten Frist Weiterbeschäftigung verlangen muss. Das BAG hat diese Frage offengelassen, jedoch entschieden, dass jedenfalls ein Verlangen einen Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist noch rechtzeitig ist. Je später der Arbeitnehmer allerdings seine Weiterbeschäftigung gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG verlangt, umso schwieriger könnte es für ihn werden, im Fall der Ablehnung der Weiterbeschäftigung durch den Arbeitgeber mittels eines einstweiliges Verfügungsverfahrens seine Weiterbeschäftigung durchzusetzen. Während nämlich für den Entbindungsantrag des Arbeitgebers § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG das einstweilige Verfügungsverfahren als gesetzliches Verfahren anordnet und es infolgedessen nicht auf das Vorliegen eines Verfügungsgrunds ankommt, ordnet § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG keine besondere Verfahrensart an. Leitet der Arbeitnehmer ein einstweiliges Verfügungsverfahren ein, ist umstritten, ob er neben dem Verfügungsanspruch auch den Verfügungsgrund darlegen muss oder ob der Verfügungsgrund dem Beschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG aufgrund der Konzeption des Gesetzes immanent ist. An einem Verfügungsgrund fehlt es jedenfalls, wenn der Arbeitnehmer die Eilbedürftigkeit durch zu langes Zuwarten selbst verschuldet hat.
Rz. 611
Hinweis
Hat der Arbeitnehmer seine Weiterbeschäftigung gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG rechtzeitig verlangt, lehnt der Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung indes ab, ohne von der Weiterbeschäftigungspflicht entbunden worden zu sein, hat der Arbeitnehmer Annahmeverzugslohnansprüche auch dann, wenn der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess letztlich obsiegt.