Isabel Hexel, Martina Hidalgo
1. Allgemeines
Rz. 619
Die Frage, ob der Betriebsrat mittels einer einstweiligen Verfügung Maßnahmen einer Betriebsänderung, insbesondere den Ausspruch von Kündigungen, untersagen lassen kann, ist eines der umstrittensten Themen im Arbeitsrecht. Da das BAG hierüber nicht entscheiden kann, müssen sich Arbeitgeber und Betriebsräte darauf einstellen, dass von Gericht zu Gericht unterschiedlich entschieden wird. Zur Klärung ist es daher hilfreich zu wissen, welche Gerichte schon einstweilige Verfügungen in solchen Fällen erlassen haben. Das wird in dem Musterantrag (siehe unten Rdn 639), soweit bekannt, aufgelistet.
Rz. 620
Bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung geht es dem Betriebsrat in diesem Zusammenhang hauptsächlich um zwei Ziele: Zum einen um die Sicherung einer gleichberechtigten Beratungssituation im Hinblick auf den Interessenausgleich, also darauf, welche Maßnahmen der Betriebsänderung durchgeführt werden sollen. Sind die Kündigungen erst einmal ausgesprochen oder die Maschinen abtransportiert worden, lässt sich für den Betriebsrat hierüber nicht mehr verhandeln. Zum anderen wird es dem Betriebsrat auch um Zeitgewinn gehen: Jeder Monat, den die Kündigung später ausgesprochen wird, stellt sich für den betroffenen Arbeitnehmer als spürbarer Erfolg dar. Auch der Arbeitgeber wird unter Zeitdruck sicherlich eher zu Zugeständnissen bereit sein. Gerade dann, wenn der Betriebsrat in eine Situation gebracht worden ist, in der er nichts mehr zu verlieren hat, kann ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ein wichtiges Instrument der Auseinandersetzung sein.
Rz. 621
Zur beiderseitigen Orientierung ist es wichtig, die verschiedenen Phasen bis zum regulären Zustandekommen eines Interessenausgleichs und Sozialplans zu kennen:
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Informationsphase/Übergabe von Unterlagen |
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Prüfung und Ausarbeitung eigener Vorschläge durch den Betriebsrat |
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innerbetriebliche Beratung (Verhandlung) |
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ggf. Vermittlung durch die Bundesagentur für Arbeit, § 112 Abs. 2 S. 1 BetrVG |
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Einigungsstelleneinsetzungsverfahren |
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Verhandlungen in der Einigungsstelle |
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Abschluss des Interessenausgleichs oder dessen Scheitern (kein Einigungsstellenspruch) |
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Abschluss des Sozialplans, ggf. per Einigungsstellenspruch |
2. Rechtliche Grundlagen
a) Materiell-rechtlich
aa) Anzahl der Arbeitnehmer
Rz. 622
Gem. § 111 S. 1 BetrVG muss es sich um ein Unternehmen (nicht: Betrieb) mit i.d.R. mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern handeln. Die Behandlung von Gemeinschaftsbetrieben ist umstritten; teilweise wird nach dem Gegenstand des Beteiligungsrechts differenziert (Interessenausgleich/Sozialplan).
bb) Betriebsänderung
Rz. 623
Gerade wenn eine einstweilige Verfügung beantragt wird, muss das Vorliegen einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG genau dargelegt werden, sodass dieses Kriterium möglichst einem Streit entzogen ist. Das betrifft zum einen die in § 111 BetrVG genannten fünf verschiedenen Fallgestaltungen und zum anderen die Anforderungen an die Kriterien "wesentlich" (in Nr. 1 und Nr. 2 von § 111 BetrVG) und "grundlegend" (in Nr. 4 und Nr. 5 von § 111 BetrVG). In erster Linie wird hierfür die quantitative Betrachtung entsprechend § 17 Abs. 1 KSchG heranzuziehen sein. Allerdings kann die Wesentlichkeit bzw. grundlegende Bedeutung auch mit einer qualitativen Bewertung begründet werden.
cc) Wesentliche Nachteile
Rz. 624
Wenn es gelungen ist, eine der in § 111 S. 3 BetrVG beispielhaft aufgeführten Fallkonstellationen darzulegen, bedarf es nicht mehr des Nachweises wesentlicher Nachteile für die Belegschaft (§ 111 S. 1 BetrVG). Diese werden dann fingiert, sodass die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach § 111 BetrVG auch dann bestehen, wenn im konkreten Fall keine wesentlichen Nachteile für die Belegschaft zu erwarten sind.
dd) § 112a BetrVG
Rz. 625
Der Arbeitgeber ist auch dann verpflichtet, einen Interessenausgleich bis hin zur Einigungsstelle zu ...