Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
1. Typischer Sachverhalt
Rz. 698
Der Großteil der Belegschaft eines am Frankfurter Flughafen tätigen Unternehmens leitet gegen den fünfköpfigen Betriebsrat ein gerichtliches Amtsenthebungsverfahren (§ 23 BetrVG) ein. Während des laufenden Verfahrens tritt der Betriebsrat geschlossen zurück und bereitet Neuwahlen vor. Der vom Betriebsrat eingesetzte Wahlvorstand – er besteht ausschließlich aus Betriebsratsmitgliedern – veröffentlicht am 27.2.2023 Wahlausschreiben und Wählerliste. Auf der Wählerliste fehlt der Name eines Mitarbeiters. Er ist einer der Antragsteller und der Wortführer der Belegschaft in dem Amtsenthebungsverfahren; bei den Neuwahlen will er sich selbst zur Wahl stellen. Der Wahlvorstand bewertet ihn im Gegensatz zu früher nun als leitenden Angestellten. Tatsächlich ist er sog. Supervisor, nicht aber leitender Angestellter im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG. Neben ihm gibt es noch fünf andere Mitarbeiter in der Position des Supervisors, die alle die gleiche Tätigkeit wie der ausgenommene Supervisor verrichten. Diese fünf anderen Supervisoren bewertet der Wahlvorstand als normale Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 BetrVG. Der betreffende Mitarbeiter erhebt am 6.3.2023 Einspruch gegen die falsche Wählerliste, der Wahlvorstand lässt sich davon nicht beirren. Eine Begründung für die unterschiedliche Behandlung der Supervisoren gibt der Wahlvorstand nicht. Die Wahl soll am 17.4.2023 stattfinden. Kann der Mitarbeiter bereits während des laufenden Wahlverfahrens gerichtlich gegen den Wahlvorstand vorgehen oder muss er die fehlerhafte Wahl abwarten und diese dann gerichtlich anfechten?
2. Rechtliche Grundlagen
a) Rolle des Wahlvorstands
Rz. 699
Die Vorbereitung und Durchführung einer Betriebsratswahl ist kompliziert. Es gibt eine Reihe von Formvorschriften, schwierige Rechtsfragen und Ermessensspielräume. Die Entscheidungen trifft der Wahlvorstand in eigener Verantwortung und unter besonderer Berücksichtigung seiner Neutralitätspflichten. Arbeitgeber, Gewerkschaften oder kundige Arbeitnehmer können allenfalls Rat und Unterstützung geben. Ihre Interventionsmöglichkeiten sind begrenzt.
Diese unabhängige Rolle des Wahlvorstands ist durchaus verständlich. Sie beugt Versuchen Dritter vor, Einfluss auf die Wahl zu nehmen. Die Medaille hat aber auch eine andere Seite. Ist der Wahlvorstand beratungsresistent oder verfolgt er – wie im Beispielsfall – sachfremde Interessen, müssen Arbeitgeber, Belegschaft und im Betrieb vertretene Gewerkschaften Fehler im Wahlverfahren grundsätzlich zunächst einmal hinnehmen. Sie sind auf die nachträgliche Wahlanfechtung verwiesen (§ 19 BetrVG).
b) Bedeutung des Wahlanfechtungsverfahrens
Rz. 700
Ein Wahlanfechtungsverfahren dauert lange, mitunter zwei oder noch mehr Jahre. Währenddessen bleibt der gewählte Betriebsrat im Amt, auch wenn die Wahl grob fehlerhaft war und die demokratische Legitimation des Betriebsrats sehr zu bezweifeln ist. Überdies entstehen vermeidbare Kosten für das Wahlanfechtungsverfahren und Neuwahlen.
Daher stellt sich die Frage, ob rechtswidrigen Maßnahmen des Wahlvorstandes bei Wahlvorbereitung und -durchführung nicht schon mit einer einstweiligen Verfügung begegnet werden kann. Damit würde der Fehler schnell und nicht langsam korrigiert, es käme kein fehlerhaft gewählter Betriebsrat ins Amt, Zeit und Nerven aller Beteiligten und die Finanzen des Arbeitgebers würden geschont.
c) Effektiver Rechtsschutz durch einstweilige Verfügung
Rz. 701
Eine solche einstweilige Verfügung gegen rechtswidrige Maßnahmen des Wahlvorstandes wird allgemein für zulässig gehalten. In der Praxis kommt sie auch recht häufig vor. Allerdings werden die Voraussetzungen für eine einstweilige Verfügung von den verschiedenen Gerichten unterschiedlich beurteilt.
Einige Gerichte sind ausgesprochen zurückhaltend. Sie argumentieren häufig so: Aus § 19 BetrVG ergebe sich, dass eine fehlerhafte Betriebsratswahl erst einmal hinzunehmen sei. Deshalb sei bei Fehlern, welche die Anfechtbarkeit der Wahl begründen, eine einstweilige Verfügung von vornherein nicht möglich. Anderenfalls werde die Wertung des § 19 BetrVG überspielt. Zudem würde im Verfügungsverfahren die Hauptsache vorweggenommen. Dies sei nur anders bei Fehlern des Wahlvorstands, die zur Nichtigkeit der Wahl führten. Durch eine solche Wahl komme von vornherein kein wirksamer Betriebsrat ins Amt, deswegen spiele insofern die Wertung des § 19 BetrVG keine Rolle. Gegen solche zur Nichtigkeit der Wahl führende Fehler könne mittels einstweiliger Verfügung vorgegangen werden. Bisweilen wird danach differenziert, ob mittels einstweiliger Verfügung eine Korrektur einzelner Entscheidungen des Wahlvorstandes oder der Abbruch der Wahl erzwungen werden soll (siehe dazu Rdn 703 f.): Im ersten Fall reiche die sichere Anfechtbarkeit, im zweiten Fall bedürfe es der Nichtigkeit der anstehenden Wahl.
Andere Gerichte sind großzügiger. Sie lassen eine einstweilige V...