Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
1. Allgemeines
Rz. 483
Wenn der Arbeitgeber die Mitbestimmungsrechte aus § 87 BetrVG verletzt, hat der Betriebsrat einen Anspruch auf Unterlassung der mitbestimmungswidrigen Maßnahme. Diesen sog. allgemeinen Unterlassungsanspruch leitet das Bundesarbeitsgericht unmittelbar aus § 87 BetrVG in Verbindung mit der besonderen, einem gesetzlichen Dauerschuldverhältnis ähnlichen Rechtsbeziehung zwischen den Betriebsparteien und den besonderen Rücksichtspflichten aus § 2 BetrVG ab. § 23 Abs. 3 BetrVG (hierzu Rdn 331 ff.) steht unabhängig daneben.
2. Rechtliche Grundlagen
a) Materiellrechtlich
aa) Allgemeines
Rz. 484
Der Unterlassungsanspruch setzt ein Verhalten des Arbeitgebers voraus, durch das ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gegenwärtig oder künftig verletzt wird. Zu prüfen ist erstens die Mitbestimmungswidrigkeit eines Verhaltens und zweitens eine Wiederholungs- bzw. Erstbegehungsgefahr. Im Gegensatz zum Anspruch aus § 23 Abs. 3 BetrVG, der einen bereits begangenen groben Verstoß voraussetzt, kann der allgemeine Unterlassungsanspruch auch rein vorbeugend sein.
Ergänzend gibt es auch einen Beseitigungsanspruch bezogen auf den eingetretenen betriebsverfassungswidrigen Zustand. In jüngerer Rechtsprechung versteht das BAG diesen Anspruch relativ eng, nämlich nicht bezogen auf eine "weitergehende Folgenbeseitigung" (wie beispielsweise Löschung von mitbestimmungsrechtswidrig erlangten arbeitnehmerbezogenen Verhaltensdaten). Die Abgrenzung zwischen Beseitigung und Folgenbeseitigung ist weder klar noch dem Grunde nach plausibel.
bb) Mitbestimmungstatbestände
Rz. 485
Unstreitig besteht der Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei allen sozialen Angelegenheiten nach § 87 BetrVG. Die Argumentation des BAG, dass der Betriebsrat bis zu einer Einigung oder deren Ersetzung in der Einigungsstelle das mitbestimmungswidrige Verhalten nicht dulden muss, ist aber übertragbar auf andere echte Mitbestimmungstatbestände, die wie § 87 BetrVG die Einsetzung einer Einigungsstelle vorsehen, so § 94 (u.a. allgemeine Beurteilungsgrundsätze) und § 95 (Auswahlrichtlinien) und auch § 98 (Bildungsmaßnahmen) BetrVG. Auch im Bereich des § 78 S. 1 BetrVG ist der allgemeine Unterlassungsanspruch anerkannt worden.
Bei personellen Einzelmaßnahmen verneint das BAG einen allgemeinen, von § 23 Abs. 3 BetrVG unabhängigen Unterlassungsanspruch, da das Gesetz, wie § 100 BetrVG zeige, anders als bei § 87 Abs. 1 und bei § 95 Abs. 1 BetrVG in Kauf nehme, dass eine personelle Maßnahme i.S.v. § 99 BetrVG zumindest vorübergehend praktiziert werde, ohne dass ihre materielle Rechtmäßigkeit feststehe. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber in § 101 BetrVG (hierzu Rdn 373 ff.) die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die prozeduralen Anforderungen der §§ 99 Abs. 1 S. 1, 100 Abs. 2 BetrVG ausdrücklich geregelt, so dass das Gesetz bei einer Verletzung dieser Vorschriften die nachträgliche Beseitigung und nicht die vorbeugende Unterlassung der Störung vorsehe.
cc) Mitbestimmungswidriges Verhalten
Rz. 486
Mitbestimmungswidriges Verhalten liegt vor, wenn der Arbeitgeber Maßnahmen, die von einem Mitbestimmungstatbestand erfasst werden, ergreift, ohne dass hierfür die Zustimmung des Betriebsrats vorliegt. Auf ein Verschulden kommt es nicht an. Nicht erforderlich ist, dass der Betriebsrat überhaupt nicht beteiligt wurde. Selbst wenn der Betriebsrat informiert wurde, aber keine Stellungnahme abgegeben hat, darf der Arbeitgeber erst tätig werden, wenn er die Zustimmung des Betriebsrats eingeholt hat. Ggf. muss er warten, bis die Einigungsstelle die Zustimmung des Betriebsrats ersetzt.
Das gilt selbst dann, wenn es der Betriebsrat über mehrere Jahre unterlassen hat, einen Verstoß des Arbeitgebers gegen Mitbestimmungsrechte zu beanstanden. Eine Verwirkung von Mitbestimmungsrechten findet nicht statt.
Auf die Gründe, aus denen der Betriebsrat die Zustimmung verweigert, kommt es nicht an. So kann der Arbeitgeber sich nicht auf ein unzulässiges Koppelungsgeschäft berufen, wenn der Betriebsrat seine Zustimmung beispielsweise von einer finanziellen Kompensation abhängig macht, da § 87 BetrVG keinen Katalog zulässiger Zustimmungsverweigerungsgründe enthält. Nur in "besonders schwerwiegenden, eng begrenzten Ausnahmefällen" hält das BAG es für möglich, dass dem Unterlassungsanspruch der Einwand unzulässiger ...