Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
a) Zeitpunkt der Akteneinsicht
Rz. 170
Akteneinsicht muss/kann – auch im OWi-Verfahren – so früh und so oft und so lange wie nötig genommen werden.
Rz. 171
Wird der Verteidiger vom Mandanten ggf. erst kurz vor der Hauptverhandlung beauftragt, muss der Verteidiger sich auch in diesen Fällen nicht nur selbst ausreichend Zeit zur Vorbereitung nehmen, sondern auch darauf bestehen, dass ihm diese Zeit gelassen wird. Er darf nicht erklären, er sei genügend vorbereitet, wenn das nicht der Fall ist (BGH, NJW 1965, 2164). Der Verteidiger darf sich grds. auch nicht damit zufrieden geben, wenn ihm auf seinen – kurzfristig – vor der Hauptverhandlung gestellten ersten Akteneinsichtsantrag z.B. mitgeteilt wird, die Akten könnten am Terminstag vor dem Termin auf der Geschäftsstelle eingesehen werden. Dies ist mit dem umfassenden Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nicht zu vereinbaren, insbesondere ersichtlich dann nicht, wenn der Verteidiger die Einsicht in die Messunterlagen verlangt hat (s.u.), um gegebenenfalls einen Privatgutachter mit der Überprüfung der Messung zu beauftragen (OLG Celle, Beschl. v. 22.2.2022 – 2 Ss (OWi) 264/21, VRR 5/2022, S. 28 ff. (Burhoff); ebenso OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.8.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20, zfs 2021 647; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 6; vgl. aber OLG Hamm, Beschl. v. 3.9.2012 – II-3 RBs 235/12, Tz. 13). Der Verteidiger muss auch in diesem Fall auf "normaler" Akteneinsicht bestehen und diese beantragen. Wird ihm nicht früh genug vor der Hauptverhandlung ausreichende Akteneinsicht gewährt, bleibt ihm keine andere Wahl, als (spätestens) zu Beginn der Hauptverhandlung deren Aussetzung wegen fehlender Akteneinsicht zu beantragen. Wird der Antrag abgelehnt, muss das gem. § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden, um so den für die Rechtsbeschwerde erforderlichen Gerichtsbeschluss (OLG Saarbrücken, VRR 2016, Nr. 4 S. 18 = StRR 2016, Nr. 4 S. 22 = VA 2016, 103; vgl. die Formulierung in § 338 Nr. 8 StPO) zu erlangen (Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 543, vgl. auch Rdn 197).
b) Verfahren
Rz. 172
Hinweis
Für die Akteneinsicht im Bußgeldverfahren gelten grds. die allgemeinen Regeln der Akteneinsicht im Strafverfahren (s. Burhoff/Burhoff, EV, Rn 225 ff.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 252 ff.).
Rz. 173
Zuständig für die Akteneinsicht im vorbereitenden Verfahren ist die Verwaltungsbehörde, die das Verfahren durchführt. Ist das Verfahren bereits beim AG anhängig, ist dieses für die Gewährung der Akteneinsicht zuständig.
Rz. 174
Berechtigt zur Akteneinsicht ist zunächst der Verteidiger des Betroffenen.
Hinweis
Voraussetzung für die Gewährung von Akteneinsicht ist nicht, dass sich eine schriftliche Vollmacht bei der Akte befindet. Es genügt die Versicherung des Verteidigers, er sei bevollmächtigt (BGHSt 36, 259, 260; BGH, StraFo 2010, 339; KG, Beschl. v. 10.4.2007 – 2 Ss 58/07; Beschl. v. 17.10.2011 – 2 Ss 68/11; OLG Brandenburg, VRS 117, 305; OLG Jena, VRS 108, 276; OLG Koblenz, VRS 94, 219; OLG Köln, StRR 2011, 479; Burhoff/Burhoff, EV, Rn 295 m.w.N.; Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 183; s. wohl auch BVerfG NJW 2012, 141 m. Anm. Burhoff StRR 2011, 426). Hat das Gericht Zweifel, muss/kann es diese allerdings aufklären und kann dann ggf. die Vorlage einer Vollmachtsurkunde verlangen (vgl. OLG Hamm, AnwBl. 1981, 31).
Rz. 175
Nach § 49 Abs. 1 OWiG gewährt im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde diese dem Betroffenen aber auch selbst – unter Aufsicht – Akteneinsicht (auch § 147 Abs. 4 StPO, zum Akteneinsichtsberechtigten Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 180 ff.). Die Akteneinsicht durch den Betroffenen selbst steht nicht im Ermessen der Verwaltungsbehörde, sondern vermittelt dem Betroffenen einen Anspruch im Rahmen der in § 49 Abs. 1 OWiG genannten Versagungsgründe (KK-OWiG/Lampe, § 49 Rn 3).
Hinweis
Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen ist unabhängig davon, ob er einen Verteidiger beauftragt hat. Der Betroffene hatte nach bisher h.M. aber kein Recht zur Besichtigung amtlich verwahrter Beweisstücke. Lichtbilder von einem Verkehrsverstoß oder Videoaufzeichnungen sind allerdings Teil der Akten, so dass sie auch vom Betroffenen (nicht nur vom Verteidiger) in Augenschein genommen werden dürfen (Schäpe, DAR 1998, 326, 327). Nachdem nunmehr § 147 Abs. 4 StPO das Besichtigungsrecht des Beschuldigten auf amtlich verwahrte Beweisstücke erstreckt hat, dürfte dies allerdings nunmehr (erst recht) auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren im Rahmen des § 49 OWiG gelten.
Rz. 176
§ 49 Abs. 1 OWiG gilt aber nur für das Verfahren bei der Verwaltungsbehörde. Ist das Verfahren von dieser gem. § 69 Abs. 3 OWiG an die StA bzw. dann von dieser an das Gericht abgegeben worden, bleibt es über § 46 Abs. 1 OWiG bei der Anwendung des § 147 StPO. Der nicht verteidigte Betroffene kann dann nach § 147 Abs. 4 StPO die Akten einsehen und unter Aufsicht Beweisstücke besichtigen (vgl. Burhoff/Burhoff, EV, Rn 291 ff.).
Rz. 177
Wird dem Verteidiger die Akteneinsicht versagt, kann er abweichend von den sonstigen Rechtsmitteln bei Versagung/Beschränkung von Akteneinsicht gegen eine Entscheidung der Verwaltungsbe...