Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
a) Allgemeines
Rz. 268
Hinweis
Die mit der Zulassung der Rechtsbeschwerde zusammenhängenden Fragen haben wegen der Änderung des OWiG im Jahr 1999 durch die Anhebung der Wertgrenzen in § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 OWiG erheblich an Bedeutung zugenommen. Denn die Anhebung hat dazu geführt, dass – soweit nicht ein Fahrverbot verhängt ist – bei Verkehrsordnungswidrigkeiten der weitaus größte Teil der Rechtsbeschwerden der Zulassung bedarf.
Rz. 269
Nach § 80 Abs. 1 OWiG ist die Rechtsbeschwerde auf Antrag grds. dann zuzulassen, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen oder das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (eingehend dazu Burhoff/Kotz/Junker, RM, Teil A Rn 11262 ff.; Burhoff/Junker, OWi, Rn 3238 ff.). Obwohl die Zulassungsvoraussetzungen damit an sich verhältnismäßig klar umrissen sind, bieten Rechtsprechung und Literatur zur Frage der Zulassungsvoraussetzungen ein derart unübersichtliches Bild, dass lediglich eins feststeht: Es ist im Einzelfall schwer vorhersehbar, ob ein Zulassungsantrag Erfolg haben wird oder nicht (vgl. a. Fromm, zfs 2015, 484 ff.).
Rz. 270
Sinn und Zweck der Regelung ist es, dass bei weniger bedeutsamen Ordnungswidrigkeiten eine höchstrichterliche Entscheidung nur in Ausnahmefällen herbeigeführt werden können soll und zudem nach § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG auch nur dann, wenn durch Urteil, d.h. aufgrund einer Hauptverhandlung, entschieden worden ist. Eine Zulassungsbeschwerde gegen eine Beschlussentscheidung nach § 72 OWiG gibt es nicht (vgl. BayObLG, DAR 1991, 388 m.w.N.; OLG Hamm, VRS 50, 59).
Hinweis
Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils muss "geboten" sein, d.h. sie muss sich aufdrängen und nicht nur nahe liegen (Burhoff/Kotz/Junker, RM, Teil A Rn 1255; Burhoff/Junker, OWi, Rn 3243 ff. m.w.N.; Göhler/Seitz/Bauer, § 80 Rn 15).
b) Zulassungsvoraussetzungen (§ 80 Abs. 1 OWiG)
aa) Fortbildung des Rechts
Rz. 271
Die Fortbildung des Rechts besteht darin, bei der Auslegung von Rechtssätzen, auch des Verfahrensrechts, und der rechtsschöpferischen Ausfüllung von Gesetzeslücken Leitsätze aufzustellen und zu festigen (BGHSt 24, 15, 21 = DAR 1971, 81; OLG Hamm, DAR 1973, 139; Burhoff/Kotz/Junker, RM, Teil A Rn 1255 ff.; Burhoff/Junker, OWi, Rn 3243 ff.). Mit der Zulassung soll das OLG als Rechtsbeschwerdegericht die Möglichkeit erhalten, seine Rechtsauffassung in einer für die nachgeordneten Gerichte richtungsgebenden Weise zum Ausdruck zu bringen. Die Fortbildung des Rechts kommt nur bei Rechtsfragen in Betracht, die entscheidungserheblich, klärungsbedürftig und von allgemeiner praktischer Bedeutung sind.
Rz. 272
Einzelfälle, in denen der Zulassungsgrund der Fortbildung des Rechts bejaht worden ist, waren u.a.
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Der Anwendungsbereich der Bestimmung des § 80 OWiG selbst (OLG Hamm, NJW 1974, 2098), |
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die Höhe des Sicherheitsabzuges bei Geschwindigkeitsmessungen der Polizei durch Nachfahren mit einem Fahrzeug (OLG Düsseldorf, NJW 1988, 1039), |
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fehlende Urteilsgründe (OLG Celle, VRS 75, 463). |
bb) Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
(1) Allgemeines
Rz. 273
Die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist von größerer praktischer Bedeutung als die zur Fortbildung des Rechts. Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wird die Rechtsbeschwerde zugelassen, wenn sonst schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen würden. Dabei kommt es darauf an, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat. Bei einer Fehlentscheidung, die sich nur im Einzelfall auswirkt, ist – nach der Rechtsprechung – die Einheitlichkeit der Rechtsprechung noch nicht gefährdet, selbst wenn der Rechtsfehler offensichtlich ist (vgl. u.a. OLG Hamm, NJW 1990, 2369; OLG Koblenz, NJW 1990, 2398; Göhler/Seitz/Bauer, § 80 Rn 5 m.w.N.; Burhoff/Kotz/Junker, RM, Teil A Rn 1258 ff.; Burhoff/Junker, OWi, Rn 3245 ff.). Hinzukommen muss, dass die Fehlentscheidung in einer grundsätzlichen Frage getroffen ist, dass sie schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsanwendung auslösen würde oder dass ohne die höchstrichterliche Entscheidung mit weiteren Fehlentscheidungen in gleich gelagerten Fällen gerechnet werden kann (OLG Düsseldorf, VRS 78, 140; OLG Koblenz, VRS 68, 227; zur sog. "Wiederholungsgefahr" KG, Beschl. v. 20.9.2018 – 3 Ws (B) 234/18; OLG Hamm, VRS 74, 36; NJW 1970, 624).
Hinweis
Wird bewusst von einer höchstrichterlichen Entscheidung abgewichen, so ist i.d.R. ein Grund für die Zulassung gegeben. Dann tritt nämlich offen zutage, dass die Rechtsprechung uneinheitlich ist (OLG Düsseldorf, NStZ 1991, 395 = NZV 1991, 283). Bei unbewusster Abweichung hängt die Frage der Zulassung von der Bedeutung des möglichen Rechtsfehlers und dem Grad der Wiederholungsgefahr ab (BayObLG, VRS 82, 212). Ergibt sich der Rechtsfehler aus einem vom AG verwendeten Formular, so ist die Wiederholungsgefahr besonders groß (OLG Hamm, JMBl. NW 1980, 69).
Rz. 274
Bei Fehlern des materiellen Rechts gilt: Sie stellen wegen der großen Zahl der hier auftretenden Rechtsf...