Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
Rz. 180
Hinsichtlich der Rechtsgrundlage für das Recht auf Einsicht in die genannten "Messunterlagen" ist zwischen dem Recht auf Akteneinsicht und dem Recht auf Offenlegung von Unterlagen, die sich nicht bei der Akte befinden, aber für die Verteidigung von Bedeutung sein könnten (Messunterlagen, Lebensakte des Geschwindigkeitsmessgerätes, Bedienungsanleitung etc.), zu unterscheiden (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 3 ff.).
aa) Formeller Aktenbegriff
Rz. 181
Im Rahmen des AER gilt ein formeller Aktenbegriff. Daher kann auf diesem Wege Einsicht in alle Unterlagen, die sich bei der Akte befinden, und in solche Unterlagen genommen werden, die mit der Anklage vorzulegen sind (§ 46 OWiG i.V.m. § 147 Abs. 1, 2. Alt. StPO), also in solche Unterlagen, die nach der Auffassung der Staatsanwaltschaft und des Gerichts von Bedeutung für die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage sind – aber auf der Grundlage des Akteneinsichtsrechts eben ausschließlich in diese. Das Akteneinsichtsrecht aus § 147 StPO bezieht sich auf den gesamten Akteninhalt, sodass hiervon die sich bei der Akte befindende Bedienungsanleitung, Ton- und Bildaufnahmen ebenso wie ggf. Registerauszüge umfasst sind (vgl. wegen der Einzelh. zum Umfang des Akteneinsichtsrechts auch das "ABC" bei Burhoff/Burhoff, EV, Rn 490 ff.). Die Akte muss dem Verteidiger vollständig zur Verfügung gestellt werden. Da sich der Akteneinsichtsanspruch aber nur auf die Unterlagen des konkreten Verfahrens bezieht, steht etwa bei Videoaufzeichnungen, z.B. von Abstandsverstößen, über das Akteneinsichtsrecht grds. auch nur die den Mandanten betreffende Passage zur Verfügung (BayObLG, NJW 1991, 1070 = NZV 1991, 123 = VRS 80, 364 m. Anm. Beck, DAR 1991, 275). Ein Anspruch auf weitere Daten zur Überprüfung der Ordnungsgemäßheit des Messverfahrens ergibt sich nicht aus dem Recht auf Akteneinsicht, sondern aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren (s.u.).
bb) Anspruch auf Einsichtnahme in nicht bei der Akte befindliche Unterlagen
Rz. 182
Will der Verteidiger Einsicht in andere Unterlagen nehmen als diejenigen, die sich bei der Akte befinden, also insbesondere in solche Unterlagen, die er – bzw. ein von ihm ggf. zu beauftragender Privatgutachter – benötigt, um insbesondere die Richtigkeit einer Geschwindigkeitsmessung zu überprüfen (Messunterlagen, s.o.), so kann er diesen Anspruch nicht mit dem Recht auf Akteneinsicht verfolgen, denn das AER begründet kein Recht auf Erweiterung des Aktenbestandes (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 3 m.w.N.). Das bedeutet indes nicht, dass ein solcher Anspruch nicht bestünde. Er ergibt sich nur nicht aus § 147 StPO, sondern aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 EMRK), denn mit der Anerkennung standardisierter Messverfahren und den damit verbundenen Erleichterungen für die Verfolgungsbehörden und das Gericht korrespondiert ein Anspruch der Verteidigung darauf, im Sinne einer Parität des Wissens die Grundlagen dieses standardisierten Verfahrens zu kennen und die Einhaltung ihrer Bedingungen im konkreten Einzelfall überprüfen zu können (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 7; dies. DAR 2018, 541 m.w.N.; vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Rdn 203). Denn ein OWi-Verfahren, in dem der Betroffene die Ergebnisse eines Messprozesses hinnehmen müsste, ohne die Grundlagen der Messung zu kennen und diese sowie deren konkrete Anwendung in Frage stellen zu können, wäre kein faires Verfahren i.S.d. Art. 6 EMRK. Dazu benötigt der Verteidiger aber die o.g. Messunterlagen etc., die ihm deshalb von den Verfolgungsbehörden und dem Gericht als den Adressaten des Rechts auf ein faires Verfahren zur Verfügung zu stellen sind, und zwar unabhängig von dem Recht auf Akteneinsicht und dessen Beschränkungen sowie unabhängig von der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), zu letzterem Cierniak/Niehaus, NStZ 2014, 527.
Rz. 183
Dies hat nunmehr das BVerfG in seinem Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (NJW 2021, 455 = DAR 2021, 75 m. Anm. Kroll und Anm. Niehaus, DAR 2021, 377 und VRR 1/2021, 4) unmissverständlich bestätigt (und verweist dabei zu Recht u.a. auf die Entscheidung zu den sog. Spurenakten (BVerfGE 63, 45), vgl. auch Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 542).
Die Gegenauffassung, argumentierte – zu Unrecht – mit dem "Wesen" des standardisierten Messverfahrens. Die zugehörigen Grundsätze seien insbesondere vom BGH gerade entwickelt worden, um den Tatrichter von der Beweisführung zur Richtigkeit der Messung zu entlasten. Dem widerspreche es im Ergebnis, dem Betroffenen die Überprüfung der Messdatei etc. zu ermöglichen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2017 – 2 RBs 202/16, VRR 8/2017, 18 ("standardisiertes Messverfahren" werde "ad absurdum geführt"); OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.7.2018 – 2 Ss (OWi) 197/18), VRR 9/2018, 18). Dabei wird verkannt, dass der BGH in seinen Entscheidungen zum standardisierten Messverfahren die Anwendung dieser Grundsätze gerade davon abhängig gemacht hat, dass es dem Betroffenen möglich bleibt, selbst Zweifel an der Richtigkeit der Messung darzulegen und im Wege des Beweisantrags in das Verfahren einzuführen, BGHSt 39, 291 = NJW 1993, 3...