Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
Rz. 182
Will der Verteidiger Einsicht in andere Unterlagen nehmen als diejenigen, die sich bei der Akte befinden, also insbesondere in solche Unterlagen, die er – bzw. ein von ihm ggf. zu beauftragender Privatgutachter – benötigt, um insbesondere die Richtigkeit einer Geschwindigkeitsmessung zu überprüfen (Messunterlagen, s.o.), so kann er diesen Anspruch nicht mit dem Recht auf Akteneinsicht verfolgen, denn das AER begründet kein Recht auf Erweiterung des Aktenbestandes (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 3 m.w.N.). Das bedeutet indes nicht, dass ein solcher Anspruch nicht bestünde. Er ergibt sich nur nicht aus § 147 StPO, sondern aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 EMRK), denn mit der Anerkennung standardisierter Messverfahren und den damit verbundenen Erleichterungen für die Verfolgungsbehörden und das Gericht korrespondiert ein Anspruch der Verteidigung darauf, im Sinne einer Parität des Wissens die Grundlagen dieses standardisierten Verfahrens zu kennen und die Einhaltung ihrer Bedingungen im konkreten Einzelfall überprüfen zu können (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 7; dies. DAR 2018, 541 m.w.N.; vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Rdn 203). Denn ein OWi-Verfahren, in dem der Betroffene die Ergebnisse eines Messprozesses hinnehmen müsste, ohne die Grundlagen der Messung zu kennen und diese sowie deren konkrete Anwendung in Frage stellen zu können, wäre kein faires Verfahren i.S.d. Art. 6 EMRK. Dazu benötigt der Verteidiger aber die o.g. Messunterlagen etc., die ihm deshalb von den Verfolgungsbehörden und dem Gericht als den Adressaten des Rechts auf ein faires Verfahren zur Verfügung zu stellen sind, und zwar unabhängig von dem Recht auf Akteneinsicht und dessen Beschränkungen sowie unabhängig von der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), zu letzterem Cierniak/Niehaus, NStZ 2014, 527.
Rz. 183
Dies hat nunmehr das BVerfG in seinem Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (NJW 2021, 455 = DAR 2021, 75 m. Anm. Kroll und Anm. Niehaus, DAR 2021, 377 und VRR 1/2021, 4) unmissverständlich bestätigt (und verweist dabei zu Recht u.a. auf die Entscheidung zu den sog. Spurenakten (BVerfGE 63, 45), vgl. auch Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 542).
Die Gegenauffassung, argumentierte – zu Unrecht – mit dem "Wesen" des standardisierten Messverfahrens. Die zugehörigen Grundsätze seien insbesondere vom BGH gerade entwickelt worden, um den Tatrichter von der Beweisführung zur Richtigkeit der Messung zu entlasten. Dem widerspreche es im Ergebnis, dem Betroffenen die Überprüfung der Messdatei etc. zu ermöglichen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2017 – 2 RBs 202/16, VRR 8/2017, 18 ("standardisiertes Messverfahren" werde "ad absurdum geführt"); OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.7.2018 – 2 Ss (OWi) 197/18), VRR 9/2018, 18). Dabei wird verkannt, dass der BGH in seinen Entscheidungen zum standardisierten Messverfahren die Anwendung dieser Grundsätze gerade davon abhängig gemacht hat, dass es dem Betroffenen möglich bleibt, selbst Zweifel an der Richtigkeit der Messung darzulegen und im Wege des Beweisantrags in das Verfahren einzuführen, BGHSt 39, 291 = NJW 1993, 3081, 3083: "Sein Anspruch [der des Betroffenen], nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, bleibt auch dann gewahrt, wenn (!) ihm die Möglichkeit eröffnet ist, den Tatrichter im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen."
Diese Möglichkeit hat der Betroffene – wie oben gezeigt – aber nur, wenn er in die Messunterlagen Einsicht nehmen kann. Denn ein Beweisantrag des Inhalts, dass die Messung unrichtig sein, ohne dass der Betroffene konkrete Umstände für diese Behauptung darlegen kann, wäre als "Behauptung ins Blaue hinein", unzulässig (BVerfG, a.a.O.; Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 542 m.w.N.).
Rz. 184
Die Legitimität der Anerkennung standardisierter Messverfahren steht und fällt daher mit der Anerkennung des Einsichts- und Überprüfungsrechts der Verteidigung (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 6; dies., DAR 2018, 541, 544), und zwar gerade nach der o.g. Rechtsprechung des BGH. Wer also mit der Rechtsprechung des BGH zum standardisierten Messverfahren argumentiert, um der Verteidigung die Einsicht in die Messunterlagen vorzuenthalten, befindet sich gerade nicht in Übereinstimmung mit den Aussagen dieser Rechtsprechung (zutr. BVerfG, a.a.O., Rn 45, 60).
Hinweis
Der Betroffene ist im Rechtsstaat nicht gezwungen, die Ergebnisse der Verwendung standardisierter Messverfahren hinzunehmen, ohne Gelegenheit dazu zu haben, die Grundlagen dieser Messungen zu kennen und ggf. überprüfen zu lassen. Dies ist im Übrigen keine Besonderheit des Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahrens. Es gilt in gleicher Weise auch bei der Anwendung von Methoden zur Blutalkohol- oder DNA-Analyse im Strafverfahren. Dass dort – u.a. aufgrund der Zuverlässigkeit der dortigen Labormethoden – davon i.d.R. kein Gebrauch gemacht wird, ändert am Gewährleistungsgehalt der Informationsrechte nic...