Rz. 191

Besondere Bedeutung haben im straßenverkehrsrechtlichen Ordnungswidrigkeitenverfahren die Bedienungsanleitung des bei einer Messung verwendeten Messgerätes und sonstige zu dem Messgerät gehörende Unterlagen sowie ggf. (Roh-)Messdaten, Token und Passwörter bzw. die sog. "Lebensakte" (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.4.2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20, zfs 2021, 353 = DAR 2021, 403; OLG Celle, Beschl. v. 22.2.2022, VRR 5/2022, 28 ff. [Burhoff]); auch Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 2868 ff. und § 1 Rdn 197 ff.). Die Bedienungsanleitung benötigt der Verteidiger u.a., um anhand der dort enthaltenen Vorgaben die Ordnungsgemäßheit der Messung überprüfen zu können, indem er z.B. die Messbeamten zu der Messung befragt (vgl. u.a. LG Frankfurt/Oder, VRR 2012, 353). Aus der "Lebensakte" (auch § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG) lassen sich häufig die für die Beurteilung der Verwertbarkeit einer Messung erforderlichen Daten entnehmen, insbes., ob das betroffene Messgerät ggf. gültig (nach-)geeicht worden ist (dazu Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 2872 ff.; OLG Naumburg, StraFo 2016, 113 = VA 2016, 70 = DAR 2016, 215 = VRR 2016/4/2016, S. 14.). Auch lässt sich i.d.R. nur der Lebensakte entnehmen, ob das Messgerät ggf. repariert werden musste (OLG Naumburg, a.a.O.). Der Anspruch des Betroffenen ergibt sich dabei aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG), denn der Anerkennung standardisierter Messverfahren mit den damit verbundenen Erleichterungen hinsichtlich Beweisaufnahme und Urteilsbegründung entspricht ein Anspruch der Verteidigung darauf, die Grundlagen dieses standardisierten Verfahrens zu kennen und die Einhaltung ihrer Bedingungen im konkreten Einzelfall zu überprüfen (VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13.12.2021 – VGH B 46/21, StRR 2/2022, 28 = VRR 1/2022, 20; Cierniak/Niehaus, NStZ 2014, 526, 527).

 

Hinweis

Dem Anspruch des Betroffenen kann nicht entgegengehalten werden, dass es eine "Lebensakte" nicht gebe oder eine solche in dem betreffenden Bezirk nicht geführt werde (zutr. LG Trier, DAR 2017, 721). Entsprechenden Auskünften sollte der Verteidiger mit einem Hinweis auf § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessG und die Rechtsprechung des OLG Jena, NJW 2016, 1457 m. zust. Anm. Leitmeier = VA 2016, 88 = NStZ-RR 2016, 186 = DAR 2016, 399) begegnen. Das OLG Jena (a.a.O.) geht vom Vorhandensein der Lebensakte (stillschweigend) aus. Das OLG Naumburg verlangt dann, wenn für ein Geschwindigkeitsmessgerät keine Lebensakte geführt wird, von der Bußgeldbehörde die Klärung der Frage, ob an dem Gerät nach der letzten Eichung Reparaturen vorgenommen worden sind (OLG Naumburg, StraFo 2016, 113 = VA 2016, 70 = DAR 2016, 215 = VRR 4/2016, 14; ähnlich AG Erfurt, VRR 2010, 235 = StRR 2010, 227 [Auskunftsanspruch des Betroffenen]).

Teilweise werden anstelle des Begriffs "Lebensakte" auch die Begriffe Reparaturbuch, Gerätebuch, Gerätestammkarte oder auch Werkstattkarte verwendet. Diese Begriffe entsprechen jedoch inhaltlich im Wesentlichen einer Lebensakte (Burhoff/Niehaus, OWi, Rn 2872). Gemeint ist immer die Sammlung oder Zusammenfassung von Unterlagen, die einem bestimmten Messgerät zugeordnet sind.

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