Detlef Burhoff, Dr. Holger Niehaus
Rz. 233
Bei der (Beweis-)Tatsache wird es sich i.d.R. um in der Vergangenheit liegende (tatsächliche) Vorgänge handeln. Von besonderer Bedeutung sind dabei im OWi-Verfahren die mit einer durchgeführten Messung zusammenhängenden Umstände, sei es, dass es um die Beachtung der für die Verwertbarkeit der Messung erforderlichen Vorgaben des Herstellers und/oder der Rechtsprechung geht, sei es, dass Zeugen, i.d.R. die Messbeamten, zu dem Messvorgang gehört werden sollen. Aber auch die Frage, wer Fahrer des Kfz zum Vorfallszeitpunkt gewesen ist, ist in der Praxis in Zusammenhang mit Beweisanträgen von erheblicher Bedeutung.
Rz. 234
Erforderlich ist, wenn ein Messfehler geltend gemacht werden soll, dass dieser konkret behauptet und nicht nur allgemein die (behauptete) Unzuverlässigkeit eines Messverfahrens geltend gemacht wird. Eine nur allgemeine Behauptung reicht für die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht aus (st. Rspr., u.a. BayObLG, zfs 1997, 115; OLG Hamm, NZV 1999, 425; DAR 2007, 117 = zfs 2006, 654 = VRR 2007, 30; OLG Zweibrücken, NZV 2001, 48). Eine weitere Beweisaufnahme drängt sich hingegen auf bzw. liegt (nur) nahe, wenn konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes behauptet werden (OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Celle, a.a.O.; OLG Frankfurt am Main, zfs 2018, 234 = VA 2018, 13; OLG Hamm, NZV 2007, 155 = zfs 2007, 111 = VRR 2007, 195; VRR 2010, 474 = VA 2010, 122; OLG Oldenburg, Beschl. v. 26.1.2016 – 2 Ss (OWi) 34/16). Daran hat sich durch die Rechtsprechung des BVerfG im Beschl. v. 12.11.2020 (2 BvR 1616/18, NJW 2021, 455 = DAR 2021, 75; vgl. auch noch VerfG Bbg, Beschl. v. 18.2.2022 – VfGBbg 54/21, DAR 2022, 287 m. Anm. Kroll) nichts geändert. Ein allein mit pauschaler Kritik an dem eingesetzten standardisierten Messverfahren begründeter Beweisantrag genügt nicht (OLG Frankfurt am Main, a.a.O.). Bei solchen "allgemeinen Beweisanträgen" muss sich das AG mit den angesprochenen Fragen nicht näher auseinander setzen (z.B. OLG Brandenburg, VRR 2012, 396 = VA 2012, 158; OLG Hamm, DAR 2007, 217 = zfs 2006, 854 = VRS 111, 375 = VRR 2007, 30). Werden hingegen konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes behauptet, ist anerkannt, dass sich die weitere Beweisaufnahme zur Aufklärung auch bei einer auf ein standardisiertes Messverfahren gestützten Beweisführung aufdrängt oder diese doch nahe liegt (vgl. VerfG Bbg, Beschl. v. 18.2.2022 – VfGBbg 54/21. a.a.O.; KG, VRR 2011, 35; OLG Celle, zfs 2009, 593 = NZV 2009, 575 = VRR 2009, 393; OLG Hamm, zfs 2007, 111 = VRR 2007, 195 = NZV 2007, 155; OLG Köln, VRS 88, 376 ff.; Göhler/Seitz/Bauer, § 77 Rn 14; Cierniak, zfs 2012, 662, 677; Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 181; vgl. aber auch noch OLG Hamm, VRR 2013, 194 m. abl. Anm. Burhoff zu ESO ES 3.0 = NStZ-RR 2013, 213 [Ls.]). Ein Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens kann aber nicht damit begründet werden, dass "dann, wenn die Eichmarken des Geschwindigkeitsmessgerätes vor Beginn der Messung nicht von der die Messung durchführenden Polizeibeamtin überprüft worden sind, nicht noch von einem ordnungsgemäß geeichten Messgerät sowie von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann" (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 20.7.2015 – Ss (Rs) 10/15 [22/15 OWi]. Denn dabei handelt es sich um eine dem Sachverständigenbeweis nicht zugängliche Rechtsfrage.
Rz. 235
Teilweise ist die Rechtsprechung – allerdings vor dem BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 (2 BvR 1616/18, NJW 2021, 455 = DAR 2021, 75 – aber sehr eng gewesen: So soll es nach Auffassung z.B. des OLG Bamberg (vgl. OLG Bamberg, DAR 2016, 337 = VA 2016, 104 m.w.N.) nicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, wenn ein (Beweis-)Antrag auf Einsicht in die digitale Messdatei und deren Überlassung einschließlich etwaiger Rohmessdaten abgelehnt wird, nachdem sich der Amtsrichter aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung davon überzeugt hat, dass die Voraussetzungen eines sog. standardisierten Messverfahrens eingehalten wurden (vgl. a. noch OLG Frankfurt am Main, NStZ-RR 2013, 223 = StRR 2013, 230 = VRR 2013, 231; OLG Hamm, VRR 2013, 194 m. abl. Anm. Burhoff = NStZ-RR 2013, 213 [Ls.]; OLG Zweibrücken, zfs 2012, 51 = DAR 2013, 38 = VRR 2013, 36 = VA 2013, 10 = StRR 2013, 37; Beschl. v. 15.4.2013 – 1 SsBs 14/12; zur Auswertung der Rohmessdaten § 1 Rdn 1099 ff.). Demgegenüber geht das OLG Jena davon aus, dass dann, wenn die Verwaltungsbehörde dem Betroffenen die Einsicht in die Lebensakte des Geschwindigkeitsmessgerätes verweigert hat, das Gericht einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Beiziehung der Lebensakte grds. nicht allein mit der Begründung zurückweisen darf, der Betroffene habe keine konkreten Anhaltspunkte für eine sich aus der Lebensakte ergebende Fehlerhaftigkeit oder Unverwertbarkeit des Messergebnisses vorgebracht (OLG Jena, NJW 2016, 1457 m. zust. Anm. Leitmeier = VA 2016, 88 = NStZ-RR 2016, 186 = DAR 2016, 399; zur "Lebensakte" a. noch OLG Naumburg, StraFo 2016...